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Takeaways
  • Lebensweltbezug: Der Einsatz digitaler Technologien wie XR im Musikunterricht ermöglicht unter anderem niedrigschwellige Zugänge zum musikalischen Experimentieren mit ungewöhnlichen Klangobjekten, hautnahe Konzerterlebnisse oder immersive Zeitreisen zu Komponist:innen vergangener Epochen. So werden in praktischen und theoretischen Themenfeldern des Musikunterrichts neue Potentiale entfacht.

  • Musikunterricht der Zukunft: Der Prozess der Integration von XR-Technologien in Bildungskontexte wie dem Musikunterricht hat gerade erst begonnen. Es ist daher essenziell, „(angehenden) Lehrkräften derartige grundlegende Erfahrungen und Explorationsmöglichkeiten zu ermöglichen“ (Voit & Heye, 2022, S. 43), um den zukunftsgerichteten Einsatz der Technologie im Musikunterricht mit der Praxis zusammen zu entwickeln.

Abbildung 1: VR im Klassenzimmer, Quelle: Generiert mit Bing CoPilot, Prompt: Foto von Kindern im Musikunterricht, die zur Größe des Kopfes proportional passende VR-Headsets tragen, im Musikraum gemeinsam musizieren und dabei Spaß haben

Stellen Sie sich eine Musikunterrichtsstunde der nahen Zukunft vor: Sie betreten ein Klassenzimmer, das kaum wiederzuerkennen ist. Am oberen Rand des Zimmers liegen VR-Brillen mit Controllern, Tablets und Kopfhörer auf einzelnen Ablagen bereit. Auf weiteres Mobiliar wird zunehmend verzichtet, damit genügend Platz ist, um sich im Raum zu bewegen. Nachdem Sie die Brille aufgesetzt haben, treffen Sie in einer virtuellen, computersimulierten Umgebung als Avatar auf andere Teilnehmende, und begeben sich gemeinsam auf eine Reise in die Musikgeschichte: Sie haben die Möglichkeit, den Komponistinnen und Komponisten der jeweiligen Epoche über die Schulter zu schauen, entdecken die Umgebung, in der sie aufgewachsen sind, hören ihre Musik und experimentieren am Ende selbst damit. 

Zukunft als Impulsgeber

Zukunftsforscher:innen sind sich einig, dass nicht nur Künstliche Intelligenz, sondern auch Virtual, Augmented und Mixed Reality zum Lebensalltag der nahen Zukunft zählen werden: „Im Zuge des technologischen Wandels wird insbesondere VR-Medien (Virtual-Reality-Medien) das Potenzial zugesprochen, den Lernerfolg von Schüler:innen zu steigern und ein konstruktivistisches Lernen zu fördern.“ (Hellriegel & Čubela, 2018, S.58) Neue Formen der Interaktivität, Exploration und Erlebnismöglichkeit im dreidimensionalen Raum können Schlüsselkompetenzen wie das vernetzende Denken und autonome Lernkompetenzen fördern. Damit einher geht das große Potential einer dynamischen Unterrichtsgestaltung (Conrad Electronic SE, 2021). VR-bezogene Apps ermöglichen Schüler:innen schon jetzt, in virtuellen Umgebungen gemeinsam zu musizieren oder ihre eigenen Musizierumgebungen und Producing-Setups zu gestalten (siehe unten für Erläuterungen). Die Integration von Extended Reality-Anwendungen (XR) als zukunftsweisende Schlüsseltechnologien in den Musikunterricht, die vor allem Kindern und Jugendlichen aus dem Freizeitbereich bekannt sind, eröffnet so anschlussfähige Möglichkeiten musikbezogenen Lernens und immersiven Erlebens von Musik (Voit & Heye, 2022, S. 34), kann Bedürfnisse heterogener Lerngruppen integrieren und einen stärkeren Lebensweltbezug herstellen (vgl. Ahlers & Godau, 2019, S. 7). Der XR-Begriff umfasst hierbei Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR).

Solche Szenarien sind heute schon möglich: Das Spiel Patchworld (Abb. 3) des schweizerisch-dänischen Studios PatchXR bietet beispielsweise eine umfangreiche Bibliothek an Werkzeugen und ungewöhnlichen Instrumenten, die es den Spielenden ermöglichen, eigene Musik zu komponieren und audiovisuelle Welten aus virtuellen Musikinstrumenten, Producing Tools, visuellen Elementen und Räumen zu gestalten. Patchworld ist als eine Plattform konzipiert, die als Kreativwerkstatt und, im Multiplayer-Modus, auch als sozialer Treffpunkt funktioniert. Selbst erstellte Klänge und Produktionen können geteilt oder die Kreationen anderer erkundet werden. Sobald man aus einer Vielzahl von virtuellen Instrumenten wie Synthesizern, Drum Machines und ungewöhnlichen Klangobjekten wie Gummienten oder Flaschen seine Favoriten ausgewählt hat, steht auch einer gemeinsamen Jam-Session mit anderen Teilnehmenden nichts mehr im Wege. Die so entstehenden kreativen Prozesse gestalten die Spielenden als virtuelle Avatare. Musik lässt sich hierbei auf eine einzigartige, spielerische und innovative Weise erleben und gestalten.

Abbildung 3: Kollaborative Musikproduktion mit Sample-Bubbles und Sequencer als Avatare in Patchworld. Quelle: Eigene Darstellung

Weitere Angebote aus den vergangenen Jahre wie Schumann VR oder Konzerthaus Plus erlauben die Erkundung kultureller, musikalischer und geschichtlich bedeutsamer Wirkungsstätten. Schüler:innen können vor Ort in AR- und VR-Anwendungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten eintauchen. Auch für das zu Beginn aufgeführte „Klassenzimmer-Szenario“ findet man bereits erste Umsetzungen: So ermöglicht es das gemeinnützige Bildungsprojekt beethoven opus 360 im Rahmen von bis dato großflächig angelegten Schultourneen in Deutschland, der Schweiz und Österreich, dass sich VR, Rap, Gaming und klassische Musik zu einer innovativen und mobilen Musikvermittlung verbinden, „die einen neuen Zugang zu dem Werk und Leben Ludwig van Beethovens eröffnet – ohne jegliche Vorkenntnisse oder musikalische Vorbildung.“ (Agon e.V., 2023).

Die Zukunft des Musiklernens im Fokus: Die Projekte LEVIKO-XR und KuMuS-ProNeD

Die Teilprojekte unter Leitung von Prof. Dr. Philipp Ahner am Standort der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen im Rahmen der Verbundprojekte KuMuS-ProNeD und LEVIKO-XR sind Teil des Kompetenzverbund lernen:digital. Die beiden EU & BMBF geförderten Projekte setzen sich in ihrer Laufzeit von Juli 2023 bis Februar 2026 mit dem Einsatz digitaler Technologien im Musikunterricht und der Entwicklung damit zusammenhängender Unterrichts- und Fortbildungskonzeptionen auseinander.

Die Projekte verfolgen das Ziel, die aktuellen Entwicklungen nicht hintenanzustellen, sondern heute schon den Einsatz dieser Technologien im Musikunterricht kritisch zu hinterfragen, zu begleiten und deren Möglichkeiten und Grenzen aufzuzeigen.

Wegweisend für den Prozess der Entwicklung von Lehr-Lern-Designs sind hierbei unter anderem verschiedene Kernfragen: Welche Themen und Lernziele eignen sich besonders gut für den Einsatz der Technologien? Wie können die musikbezogenen XR-Inhalte nachhaltig in den Musikunterricht integriert werden, sodass brauchbare Zusammenhänge zu den relevanten Themenbereichen und Handlungsfeldern entstehen? Wie können die Potenziale und Grenzen von allen beteiligten Akteur:innen anhand eigener Praxiserfahrungen nachvollzogen werden?

Sowohl LEVIKO-XR als auch KuMuS-ProNeD gestalten ihre Untersuchungen und Szenarien auf Basis bereits vorhandener Apps für VR-/MR-Headsets. Diese wurden zunächst als Grundlage für weitere Konzeptionen in Voruntersuchungen erforscht. Folgende mögliche Themenbereiche und Handlungsfelder wurden als besonders relevant für das Fach Musik identifiziert:

  • Kreieren und Produzieren,
  • Musizieren und Improvisation,
  • Hörerfahrung (Rezeption, Akustik),
  • Musik und Bewegung (rhythmische Spiele) sowie
  • theoretische Inhalte (z. B. zum Themenfeld Musikgeschichte, iehe Beginn des Beitrags).

Auch interdisziplinäre Möglichkeiten und Verbindungen zu Nicht-Musik-Apps gehören zu den ersten grundlegenden Bereichen, zu denen nun in den beiden Projekten konkrete Lehr-Lern-Designs entwickelt werden. Das verwendete Design-Based Research-Verfahren dient dabei als theoretische Basis, um unter Einbezug didaktischer Modelle wie u.a. TPACK praxisorientiert und explorativ bei der Konzeption und (Weiter-)Entwicklung vorzugehen.

Design-Based Research

Als Forschungsansatz im Bereich der Bildungsforschung verfolgt Design-Based Research (DBR) zwei Ziele: Zum einen sollen innovative Lösungen zu didaktischen Problemen in der Praxis gefunden und zum anderen (neue) Theorien (weiter)entwickelt werden. Durch die gezielte Verschränkung von Wissenschaft und Praxis weist der Ansatz ein hohes Potenzial auf, den Praxistransfer fachdidaktischer Forschung zu fördern.

Das Vorgehen von DBR besteht aus einem iterativen Prozess. Dabei werden zunächst relevante Probleme aus der Bildungspraxis sowie deren spezifische Kontexte theoretisch analysiert. Anschließend werden Lösungen (sogenannte Interventionen) zu diesen Problemen entwickelt, in der Praxis erprobt und evaluiert. Aufbauend auf einer theoretischen Reflexion werden Anpassungen und Änderungen an der Intervention vorgenommen, um sie daraufhin erneut zu testen und zu untersuchen. Die Erkenntnisse aus dem DBR-Prozess sind stets kontextgebunden, können jedoch auch auf andere Anwendungskontexte übertragen und angepasst werden.

 

(Quelle: https://www.e-teaching.org)

Die oben aufgeführten Themenbereiche zeigen das breite Potenzial von XR-Technologien im Musikunterricht, da mit ihnen mehrere relevante Kompetenzbereiche aus dem Bereich Musik adressiert werden. Mit Analysen der User-Experience und der Aufstellung didaktischer Kriterien und Ziele werden nun die Anwendungen in ihrer Breite für konkretere Erprobungszyklen praxisorientiert in den Projekten ausgearbeitet, dokumentiert und im weiteren Projektverlauf veröffentlicht.

Das Vorgehen mit Design-Based Research lässt sich darüber hinaus auch auf andere, jüngere Technologien übertragen. Insbesondere das Projekt KuMuS-ProNeD ergründet die Möglichkeiten der MIDI-Controller Touch me und Playtron von Playtronica.

Midi-Controller

Ein MIDI-Controller ist ein Gerät, mit dem man elektronische Musik steuern kann. Er sendet MIDI-Signale an Computer oder andere Musikinstrumente, um Töne, Rhythmen und Effekte zu erzeugen oder zu beeinflussen, ohne selbst Klänge zu produzieren. Häufig hat er Tasten, Pads, Regler oder Fader, die dem Musiker oder der Musikerin ermöglichen, die Musik in Echtzeit zu beeinflussen. Playtronica ermöglicht als MIDI-Controller, aus alltäglichen Objekten eine Schnittstelle zum Musizieren zu machen, und diese gefühlt in Musikinstrumente zu verwandeln. Durch Berühren der Objekte können Benutzer:innen unterschiedliche Töne und Klänge erzeugen oder beeinflussen, was zu einer spielerischen und kreativen Musikerfahrung führen kann.

Diese Technologie erlaubt es, mit stromleitenden Objekten Musik zu erfinden bzw. die „Intensität der Berührung zwischen Menschen“ (Playtronica, 2016) in Töne umzuwandeln (siehe Abbildung 4). Vielversprechende Möglichkeiten zum Musiklernen mit Bewegung, durch Improvisation und über Musiktheorie wurden bereits in Pretests mit Studierenden untersucht und auf der European Association for Music in Schools-Conference 2024 präsentiert (Poster). Abbildung 4 zeigt die Arbeit eines Studierenden, der ein mögliches Setup im Kontext von Playtron erarbeitet hat, um Schüler:innen die Intervalle optisch, haptisch und auditiv näher zu bringen.

Abbildung 4: Playtron im Kontext des Themenbereichs Theorie: Die Intervalle. Quelle: Eigene Darstellung

Solche und viele weitere denkbare Setups im Kontext von Playtronica und auch XR-Technologien ermöglichen hierbei neue, niedrigschwellige Zugänge zum Musiklernen. Sie können mit Blick auf ihr gestalterisches Potenzial, die flexible Anwend- und Einsetzbarkeit und den hohen Alltagsbezug zu einer engagierteren und motivierteren Begegnung mit dem Fach Musik für verschiedene Zielgruppen beitragen.

Zukunftsperspektiven

XR-Technologie kann für wichtige Faktoren des schulischen Musikunterrichts wie Interaktivität, Teilhabe, Eigenkreation oder Zusammenarbeit eine belebende Komponente sein und das Repertoire des digitalen Unterrichts erweitern. Wer schon einmal eine virtuelle Umgebung besucht hat, wird wahrscheinlich mit der Erfahrung konfrontiert worden sein, dass das Erlebte dort auf andere, spezielle Art und Weise empfunden und gespeichert wird. Die Lernpotenziale im Umgang mit virtuellen Dingen, Räumen und Personen herauszuarbeiten, stellt ein zentrales Ziel in den kommenden (Projekt-) Jahren für LEVIKO-XR und KuMuS-ProNeD dar.

Die Beteiligten bewegen sich in diesem Kontext in einem Spannungsfeld zwischen Möglichkeit und Herausforderung: Digitale Werkzeuge werden schon seit einiger Zeit als Mittel anerkannt, um die Begeisterung für das Fach Musik zu entfachen. Der technologische Fortschritt zwingt jedoch dazu, bestehende Konzepte und Designs immer wieder zu überdenken oder anzupassen und neue Wege zu finden, Technologien in den Musikunterricht einzubinden.

Die Projekte LEVIKO-XR und KuMuS-ProNeD blicken positiv auf diese Herausforderungen. Besuchen Sie unsere Webseiten, um weiter zu verfolgen, wie wir einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Themenfelder rund um Zukunftstechnologien wie XR im Schulkontext leisten:
LEVIKO-XR

KuMuS-ProNeD

KuMuS-ProNeD und LEVIKO-XR am Standort der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen stehen unter der Projektleitung von Prof. Dr. Philipp Ahner.

Dieser Beitrag ist zuerst auf schule-mal-digital.de im Rahmen des Themenschwerpunkts Lernen und Unterrichten mit Virtual und Augmented Reality erschienen. Er wurde vom Redaktionsteam von schule-mal-digital.de und des Zukunftsraums betreut. 

Vertiefung

In diesem Bereich finden Sie Literatur, Materialien und Links, um sich noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen, und die Quellenangaben für den Beitrag.

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Takeaways
  • Lernförderliche Potenziale: Aufgrund ihrer multidimensionalen Gestaltung bieten sie vielfältige Wege hinein in eine virtuelle Welt und damit hin zu zentralen Inhalten der Bildungsarbeit. Dazu ermöglichen sie eine handlungsorientierte Auseinandersetzung der Lernenden mit den präsentierten Themen, was zu nachhaltigen Lernprozessen führen kann und eröffnen Erfahrungsräume, die anhand anderer medialer Gratifikationen nur schwer zu realisieren sind.

  • Didaktische Perspektive: Um die entsprechenden Potenziale von VR jedoch auch lernförderlich nutzen zu können, bedarf es eine Analyse der zur Verfügung stehenden VR-Anwendungen vor dem Hintergrund didaktischer Fragestellungen, denn: Nur weil ein Inhalt in einer virtuellen Welt präsentiert wird und die Erkundung daher vielleicht spaß-, oder motivationsbehaftet ist, bedeutet dies nicht, dass sich eben diese auch für das Lernen von Kindern eignet. Vielmehr gilt es für die Lernenden passende VR-Anwendungen auszuwählen und diese für Lern- und Vermittlungssettings aufzuarbeiten – ähnlich wie bei allen anderen Unterrichtsmedien auch.

  • Auf die Anwendung kommt es an: Wird jedoch eine entsprechende Passung zwischen Lernziel, Kindern und VR-Welt hergestellt, bieten virtuelle Realitäten, wie die in den vorgestellten Anwendungen A Fisherman’s Tale, Cubism und Honigbiene VR, die Möglichkeit schon heute neue Lernwege zu gehen, Unterrichtsettings durch die Potenziale des Virtuellen anzureichern und damit einen kleinen Schritt hin zur zukunftsorientierten Schule zu leisten.

„Hereinspaziert in die virtuelle Welt …“

Digitalisierungsfragen stellen eines der zentralen Themen der aktuellen Bildungslandschaft dar: Eine sich digital wandelnde Welt mache den Einsatz digitaler Medien im Unterricht unabdingbar, schließlich sollte die Schule die Lebenswelt der Lernenden ernst nehmen und diese stärker als bislang berücksichtigen (Hauck-Thum, 2021; Frederking & Ladel, 2021; Irion et al., 2023). Darüber hinaus stellt sich allerdings auch die Frage: Welchen didaktischen Nutzen bringt der Einsatz digitaler Technologien? Aus welchen Gründen wirken sie lernförderlich auf die Entwicklung von Kindern und welche Grenzen gibt es hierbei zu berücksichtigen?

Insbesondere in primarstufenspezifischen Kontexten wurden hierzu in den letzten Jahren vermehrt Projekte durchgeführt, die u. a. die Wirksamkeit von Tabletunterricht untersuchten, einzelne Anwendungen aus lerntheoretischer Perspektive analysierten und für den Unterricht aufbereiteten, Umsetzbarkeit und Mehrwerte diskutierten und medienpädagogische wie fachdidaktische Debatten darüber entfachten, wann in dieser sensiblen Lerngruppe der Einbezug von digitalen Medien überhaupt angebracht sei, oder ob vielmehr Wert auf das Sammeln von authentischen Primärerfahrungen in der „echten Welt“ gelegt werden sollte, wobei digitale und virtuelle Erfahrungen höchstens ergänzend neben diesen stehen könnten (Irion, 2018; 2023; Brandt et al., 2022; Neuhaus et al., 2023).

Insbesondere die Entwicklung neuster Medienformen wie Virtual-, Augmented- oder Mixed-Reality-Anwendungen haben diese Diskussion nochmals verstärkt. Doch betrachtet man die aktuelle Forschungslandschaft rund um das Thema VR, AR und MR in Bildungskontexten fällt auf, dass sich dieser entweder grundlegend mit medienpädagogischen Fragestellungen hinsichtlich eines lernförderlichen Einsatzes der neuen Technologien beschäftigt oder aber erneut einzelne Anwendungen analysiert und für den Unterricht nutzbar gemacht werden. Ein Fokus auf primarstufenspezifische Herausforderungen bleibt hierbei zumeist außen vor, obwohl insbesondere Virtual-Reality-Anwendungen aufgrund ihrer gegenstandsspezifischen Gestaltungsstrukturen vielfältige Potenziale für die Anbahnung und Ausprägung kindlicher Lernprozesse bereithalten, die sich auch bereits heute in Unterrichtssettings integrieren lassen (vgl. hierzu u. a. die Studien nach Freina & Ott, 2015; Wu et al., 2020; Makransky & Petersen, 2021).

Was ist Virtual Reality? Was ist Augmented Reality?

Virtual und auch Augmented Reality bezieht sich auf die technische Erzeugung von virtuellen Welten oder auch nur Elementen, die mithilfe eines Endgeräts betrachtet oder sogar betreten werden können. Die virtuellen Welten können die Nutzenden entweder mithilfe eines VR-Headsets, eines Cardboards mit Smartphone oder auch eines Tablets erkunden. Wird eine virtuelle Welt in einer 360°-Anwendung erzeugt, die man durch ein VR-Headsets oder Cardboard betrachten, betreten und mit dieser interagieren kann, spricht man von Virtual Reality. Wird lediglich ein virtuelles Objekt erzeugt, dass beispielsweise durch ein Smartphone oder ein Tablet im realen raum betrachtet werden kann, spricht man von Augmented Reality.

Im folgenden Beitrag wird daher der Frage nachgegangen, welche Lern- und Bildungspotenziale VR-Anwendungen innewohnen und welche Herausforderungen bei der schulischen Verwendung zu beachten sind.

Lernen mit VR-Anwendungen in der Primarstufe: Potenziale

Die empirische Forschung zum lernförderlichen Einsatz von Virtual-Reality-Anwendungen steckt sowohl im nationalen wie auch im internationalen Kontext noch in den Kinderschuhen – handelt es sich doch bei Virtual-Reality im Vergleich zu anderen Medienformen noch um ein recht junges massentaugliches Phänomen. Zwar hat sich sowohl die zugrundeliegende Technologie als auch die entsprechenden Anwendungen in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt, doch fehlt es an vielen Stellen noch immer an Ergebnissen einer fundierten Grundlagenforschung (Hellriegel & Čubela, 2018, S. 60; Southgate, 2020, S. 24; Zender et al., 2022, S. 28 oder auch exemplarisch die Metaanalysen von Kavanagh, 2017; Jensen & Konradsen, 2018 sowie Radianti et al., 2020).
Unabhängig von der fachdidaktischen Referenzdisziplin und dem Fokus auf einen bestimmten Schultyp zeigt sich allerdings bereits jetzt, dass Virtual-Reality-Anwendungen aufgrund ihrer mediumsspezifischen Gestaltungsstrukturen Lern- und Bildungspotenziale aufweisen, die sich lernförderlich auf die Anbahnung von Wissens-, Könnens- und Bewusstseinsstrukturen auswirken können (Bower et al., 2013; Fowler, 2015; Frehlich, 2020; Prange, 2021).

Im primarstufenspezifischen Kontext erweisen sich insbesondere drei Strukturen von Virtual-Reality-Anwendungen als besonders lernförderlich:

Herausforderungen von Virtual-Reality Anwendungen

Um die Lern- und Bildungspotenziale von Virtual-Reality Anwendungen bestmöglich zu nutzen, sollten jedoch ebenso mit VR verbundene Herausforderungen mitreflektiert werden. Im primarstufenspezifischen Kontext sind dabei vor allem folgende Aspekte relevant:

Jetzt wird’s konkret – Exemplarische Anwendungen für den Einsatz im Deutsch-, Mathematik- und Sachunterricht

Nachdem die lernförderlichen Potenziale und zu beachtenden Herausforderungen von Virtual- Reality in primarstufenspezifischen Kontexten bislang aus theoretischer Perspektive betrachtet wurden, werden im Folgenden drei VR-Anwendungen vorgestellt, die sich für den Unterrichtseinsatz im Deutsch-, Mathematik- und Sachunterricht eignen und dabei exemplarisch zeigen, inwiefern VR das Lernen unterstützen kann.

A Fisherman’s Tale – Deutschunterricht (Schwerpunkt: literarisches Verstehen)

In A Fisherman’s Tale (Innerspace VR, 2019) schlüpfen die Spielenden mithilfe eines VR-Headsets in die Rolle eines einsamen Fischers, der seit einem tragischen Bootsunglück allein in einem verlassenen Leuchtturm lebt. Als er eines morgens erwacht, findet er sich selbst jedoch in eine Marionette verwandelt vor, Gegenstände in seinem Haus wurden umgestellt und auch das Meer vor seinem Fenster scheint verschwunden zu sein: Denn als es ihm gelingt, das von Innen vernagelte Fenster aufzustemmen, entdeckt er, dass sein Leuchtturm plötzlich in einer größeren Version seiner selbst steht und er alle seine Habseligkeiten in einer deutlich größeren Variante betrachten kann. Doch auch auf seinem Esstisch findet sich ein Modell seines Zuhauses, in dem er sogar sich selbst als Miniversion entdeckt und sobald er in diesem etwas bewegt, verändert sich auch seine Umgebung um sich herum. Der Fischer beschließt, dem Mysterium der verschachtelten Welt, in die er plötzlich geraten ist, genauer auf den Grund zu gehen und einen Weg hinaus aus dem Leuchtturm zu finden, doch dieser wird von einigen Rätseln blockiert…

Abb. 2: In A Fisherman’s Tale lösen die Spielenden die Rätsel um die Leuchtturmschachtelwelt.

Die in A Fisherman’s Tale erzählte Geschichte bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für den Einsatz im Literaturunterricht der Primarstufe, vor allem für die Ausprägung literarischer Verstehensprozesse (Spinner, 2006; Boelmann & König, 2021; König, 2022b). Anhand der narrativen Struktur lassen sich sowohl Grundlagen des Handlungs- als auch des Figurenverstehens fördern, die präsentierte Schachtelwelt (vgl. Abb. 2) und die darin enthaltenen Rätsel folgen einer linearen, einsträngigen Erzählung, sodass die Anforderungsstruktur der VR-Geschichte vor allem die grundlegenden Kompetenzen literarischen Verstehens adressiert. Darüber hinaus finden sich im Rahmen der Virtual-Reality-Anwendung zahlreiche intertextuelle Verweise auf das Märchen Der Fischer und seine Frau (Gebrüder Grimm KHM 19), sodass auch diese gemeinsam mit den Lernenden herausgearbeitet und beispielsweise im Rahmen einer Einheit zu Märchen und ihren genretypischen Merkmalen aus intermedialer Perspektive eingebettet werden können. Das besondere Potenzial von A Fisherman’s Tale liegt jedoch in den Möglichkeiten der Erkundung des literarischen Handlungsraums. Durch die Präsentation der Geschichte im Rahmen der Schachtelwelt, sind die Spielenden darauf angewiesen sich mit einzelnen Raumobjekten der literarischen Umgebung zu beschäftigen – wollen sie beispielsweise den menschengroßen Anker vor der Tür des Fischers entfernen, müssen sie lediglich die kleinere Version im Modell des Leuchtturms auf dem Esstisch bewegen, um das Hindernis zu beseitigen. Hierzu müssen sie die spielinhärenten Handlungslogiken durchdringen und sich entsprechend im literarischen Raum orientieren, gleichzeitig befördert die Gestaltung der VR-Umgebung als vollständig erkundbarer Raum aber auch die handlungsorientierte Auseinandersetzung, um sich die entsprechenden narrativen handlungslogischen Zusammenhänge zu erschließen. Die Exploration der virtuellen Umgebung fungiert folglich als Stützsystem im literarischen Verstehensprozess und ermöglicht einen direkten und unmittelbaren Zugang zur literaturwissenschaftlichen Kategorie Raum, die ansonsten mithilfe von anderen medialen Gratifikationen nur schwer im Primarstufenunterricht zu vermitteln ist (für eine detaillierte Analyse der gestimmten Raumobjekte und ihrer damit einhergehenden Potenziale für den literarischen Verstehensprozess siehe König, 2023).

A Fisherman’s Tale – Ein Blick durch die Brille

Im Rahmen dieses Videos bekommen Sie einen kurzen Einblick in die VR-Erzählung A Fisherman’s Tale, in der die Spielenden in die Rolle des Fischers Bob schlüpfen und die Rätsel um die Schachtelwelt des Leuchtturms lösen.

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Cubism – Mathematikunterricht (Schwerpunkt: Geometrie)

In der Bildmitte ist eine dreidimensionale, treppenartige geometrische Figur auf einem Quadrat angeordnet. Drei weniger komplexe, ebenfalls dreidimensional dargestellte,  Elemente sind schwebend, wie ein Dreieck um die Figur in der Mitte gruppiert. Cubism (van Bouwel, 2020) setzt ebenfalls auf das handlungsorientierte Erkunden durch die Anwendenden, jedoch im mathematischen Fachkontext: Innerhalb der übersichtlichen virtuellen Umgebungen werden den Spielenden Teile eines Klötzchen-Bauwerks präsentiert, die es in einer vorgegebenen Form zusammen zu puzzeln gilt (vgl. Abb. 3). Hierbei können sie mithilfe von Gestensteuerung oder auch den Handcontrollern einer VR-Brille die Teilobjekte näher betrachten, heranziehen, drehen, rotieren und an einer vermuteten Stelle des Bauwerks platzieren. Wurde eine Form richtig gelöst, wird das Bauwerk in Gänze präsentiert, bevor es an die Lösung eines schwierigeren Puzzles geht.

Abb. 3: In Cubism setzen die Lernenden durch Rotationen geometrische Körper zusammen.

Die Anwendung ist daher wie gemacht für den Einsatz im Mathematikunterricht der Primarstufe – vor allem im Kontext der geometrischen Grundbildung, genauer der Vorstellungsbildung von Raum-Lage-Beziehungen geometrischer Körper durch mentale Rotationen (Franke & Reinhold, 2016; Helmerich, 2016). In bisherigen Unterrichtssettings werden den Lernenden hierzu zumeist Arbeitsblätter ausgelegt, auf welchen unterschiedliche Klötzchen-Bauwerke abgebildet werden, mit welchen es im Folgenden zu arbeiten gilt. So werden anhand von Lageplänen die gezeigten Körper näher beschrieben, die Perspektive anhand von mentalen Rotationen verändert und schriftlich fixiert, um die geometrische Raumvorstellung der Lernenden zu verbessern. Viele Kinder tun sich jedoch mit eben jenen mentalen Rotationen schwer, da sie diese benötigen, um einen Körper aus einer anderen Perspektive betrachten zu können und eine unzureichende Ausprägung dieser Fähigkeit das Lösen der Aufgabe beeinträchtigt. Cubism unterstützt die Anwendenden bei der Ausprägung eben jener mentalen Rotationen, indem die Körper im virtuellen Raum in einzeln betracht- und bewegbare Teile zerlegt werden, das handlungsorientierte Bewegen und Drehen der Figuren voraussetzt und im Sinne einer kontinuierlichen Anforderungssteigerung zunächst mit einfachen Bauwerken beginnt, bevor von den Spielenden verschiedene Rotationsverfahren angewendet werden müssen, um die Rätsel zu lösen. Insbesondere das handlungsorientierte Erkunden der geometrischen Raum-Lage-Beziehungen kann sich dabei auf den Lernprozess der Kinder auswirken, da sie die Bauwerke nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven visualisiert bekommen, sondern sich aktiv mit diesen auseinandersetzen müssen, um die Bauwerke richtig auszufüllen (vgl. hierzu u. a. Schlosser, 2024). Für das korrekte Platzieren der Raumobjekte braucht es zwar etwas Geschick, aber nach einer kurzen Einarbeitungsphase ist die Bewegung im virtuellen Raum kein Problem mehr.

A Cubism – Ein Blick durch die Brille

Im Rahmen dieses Videos bekommen Sie einen kurzen Einblick in die VR-Erzählung Cubism, in der sich die Spielenden anhand von Rotationen mit geometrischen Körpern auseinandersetzen.

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Honigbiene VR – Sachunterricht (Schwerpunkt: Tiere und Pflanzen in ihren Lebensräumen)

Einen etwas anderen Schwerpunkt legt die kleine VR-Anwendung Honigbiene VR (STEP-ANI-MOTION GmbH, 2019). In der App erkunden die Lernenden in einer 360°-Umgebung eine interaktive Wiese und einen sich darauf befindenden Bienenstock, in dem sie ein fleißiges Bienenvolk ganz aus der Nähe kennenlernen können. Die Steuerung erfolgt über angezeigte Interaktionspunkte, die mit der Bewegung des Tablets ausgewählt werden können und hinter denen sich neue Szenen aus dem Leben der Insekten verbergen: So ist es beispielsweise möglich, einerseits über die virtuelle Wiese zu laufen und die Bienen beim Sammeln von Pollen und Nektar zu beobachten, andererseits aber auch direkt mit den Bienen auf Augenhöhe in ihren Stock hineinzufliegen und diesen gemeinsam mit den Sechsbeinern zu erkunden.

Abb. 4: In Honigbiene VR lernen die Spielenden ein Bienenvolk aus nächster Nähe kennen.

Insbesondere für den Sachunterricht bietet Honigbiene VR damit einige Potenziale, um sich dem Kompetenzbereich „Tiere und Pflanzen in ihren Lebensräumen“ (Bildungsplan BW Sachunterricht, 2016, S. 20/40) anzunähern. Im Rahmen dessen sollen anhand exemplarischer Lebewesen Lebensräume und -vorgänge der Natur identifiziert, in der eigenen Lebenswelt wahrgenommen und grundlegende Strukturen über den Zusammenhang von Mensch und Natur herausgearbeitet werden (GDSU, 2013, S. 15f.). Hierzu werden oftmals Primärerfahrungen empfohlen, da die Lernenden so leichter die kennengelernten Inhalte auf die eigene Lebenswelt übertragen und die Bedeutsamkeit von Tier und Pflanze in der Welt wahrnehmen können. Der Einsatz von Virtual-Reality-Anwendungen versucht, diese Primärerfahrungen anzureichern oder aber überhaupt erst möglich zu machen, denn nicht alle Bildungseinrichtungen verfügen über einen Schulgarten. In einem noch kleineren Anteil macht es aus ökologischen Gründen Sinn, ein eigenes Bienenvolk anzusiedeln und selbst dann erweist sich ein Einblick in das Stockleben als herausforderungsreich (vgl. exemplarisch Druschky, 2010). Mithilfe der virtuellen Umgebung können die Lernenden anhand des Beispiels Biene die Konzepte des Zusammenlebens von Insekten untereinander niedrigschwellig erkunden, Wissensstrukturen aufbauen und im Sinne des erfahrungsbasierten Lernens erste Eindrücke sammeln. Die Übertragung der Bedeutsamkeit von Bienen bzw. Insekten in der Natur und unserem Ökosystem erfolgt in anschließenden Reflexionsrunden, die von den Lehrkräften begleitet werden.

Honigbiene – Ein Blick durch die Brille

Im Rahmen dieses Videos bekommen Sie einen kurzen Einblick in die VR-Anwendung Honigbiene VR, in der die Spielenden ein Bienenvolk aus nächster Nähe kennenlernen.

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Das Zentrum für didaktische Computerspielforschung

Das Zentrum für didaktische Computerspielforschung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg ist eine europaweit einzigartige Bildungs- und Forschungseinrichtung, die sich mit den Potenzialen und Herausforderungen von Innovationsmedien in unterschiedlichen Lehr- und Lernkontexten beschäftigt und Implikationen für Vermittlungssettings von heute und morgen ableitet. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Apps, Games, Virtual- und Augmented-Reality sowie KI-gestützten Anwendungen aus didaktischer Perspektive. Weitere Informationen unter: www.zfdc.de

 

Dieser Beitrag basiert auf den Inhalten des schule-mal-digital.de-Artikels Neue Welten entdecken – Virtual Reality im Grundschulunterricht und wird in Kürze in ausführlicher Form auf schule-mal-digital.de im Rahmen des Themenschwerpunkts Unterrichten und Lernen mit Augmented Reality und Virtual Reality erscheinen. Er wurde vom Redaktionsteam von schule-mal-digital.de betreut. 

Vertiefung

In diesem Bereich finden Sie Literatur, Materialien und Links, um sich noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen, und die Quellenangaben für den Beitrag.

 

  • Links und Materialien