Der Kompetenzverbund lernen:digital gestaltet den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis für die digitale Transformation von Schule und Lehrkräftebildung.
Über den Kompetenzverbund
Vier Kompetenzzentren bündeln die Expertise aus rund 200 länderübergreifenden Forschungs- und Entwicklungsprojekten. In den Projekten entstehen evidenzbasierte Fort- und Weiterbildungen, Materialien sowie Konzepte für die Schul- und Unterrichtsentwicklung in einer Kultur der Digitalität.
Über die Kompetenzzentren
Eine Transferstelle macht die Ergebnisse für Lehrkräfte sichtbar, fördert die konstruktive Weiterentwicklung mit der Praxis und unterstützt den bundesweiten Transfer in die Lehrkräftebildung.
Über die Transferstelle
Durch die wachsende Verbreitung von Technologien mit denen Lernende in virtuelle Welten eintauchen können, steigt nicht nur das Interesse an pädagogisch sinnvollen Konzepten, sondern es stellen sich auch ethische Fragen im Zusammenhang mit der Nutzung von Virtual Reality (VR). Die aktuelle Forschung zum Themenkomplex Ethik und VR in der Schulbildung befasst sich sowohl mit der Mikroebene der einzelnen Schüler:innen und ihren individuellen Lernprozessen, mit Datenschutz- und Sicherheitsfragen mit Relevanz für Lehrkräfte, als auch mit der Makroebene der gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Nutzung der Technologien. Diese Ergebnisse lassen sich nach Skulmowski (2023) zu den folgenden vier Prinzipien für eine ethisch vertretbare Nutzung von VR-Technologien in der Bildung bündeln:
Prinzip 1: Einhaltung der inhaltlichen Passung
Lehrkräfte nutzen Technologien oft in der Hoffnung, ein besonderes Lernerlebnis bieten zu können und das Interesse an den Inhalten zu erhöhen. Dieser Gedanke wird auch durch einige Forschungsergebnisse bestätigt, doch reichen diese Effekte häufig nicht aus, um auch die Lernleistung zu erhöhen (z. B. Makransky et al., 2021). Es gibt allerdings auch Belege, dass sich VR für Lerninhalte eignet, die man entweder aufgrund eines hohen (Kosten-)Aufwands nicht vor Ort betrachten kann oder bei denen Aspekte sichtbar gemacht werden können, die der Wahrnehmung sonst verborgen blieben (Dalgarno & Lee, 2010).
Die Grundüberlegung bei der Nutzung von VR sollte darum sein, ob man die Vorteile der Technologie zur Vermittlung des Stoffes nutzt (Mayer et al., 2023). Zu bedenken ist, dass viele Gestaltungsfaktoren mit einer bestimmten kognitiven Belastung einhergehen (für eine Übersicht, siehe Makransky & Petersen, 2021). So muss für die Verwendung einer interaktiven Simulation zunächst die Bedienung erlernt werden, bevor man sich dem eigentlichen Lerninhalt widmen kann (siehe auch Skulmowski & Xu, 2022). Daher ist es essenziell zu analysieren, ob eine Anwendung eine Ablenkung vom eigentlichen Inhalt darstellt (Mayer et al., 2023). Eine Nutzung von VR im Unterricht bloß zur Abwechslung oder um durch den Neuheitswert Interesse zu generieren, sollte auch aus ethischer Perspektive abgewogen werden. Sofern sich durch eine Analyse der VR-Anwendungen keinerlei kognitive Vorteile, dafür aber ablenkungsbedingte Nachteile abzeichnen (siehe Skulmowski & Xu, 2022), ist fraglich, ob eine Nutzung mit dem ethischen Prinzip des Vermeidens von Schaden in Einklang gebracht werden kann. Daher gehört zur ethischen Nutzung von VR immer eine genaue Auseinandersetzung mit den Inhalten und der Präsentation einer VR-Anwendung.
Prinzip 2: Bewusstsein für Exklusionsrisiken
Durch die Komplexität virtueller Lernszenarien können Eigenschaften von Lernenden eine stärkere Wirkung entfalten. Aus empirischen Studien wird z. B. ersichtlich, dass Lernende mit einer hohen Fähigkeit auf dem Gebiet des räumlichen Denkens von realistischen virtuellen Modellen profitieren, während sich hierdurch die Leistung von Lernenden mit geringer sogar verschlechtern kann (Huk, 2006). Daher ist es ratsam, auf diese Vorbedingung zu achten und ggf. alternative Lernmaterialien anzubieten, die z. B. nicht ohne Beschränkung dreh- und bewegbar sind. Eine weitere Bedingung für die Verwendung von VR im Unterricht ist es, über gesundheitliche Folgen wie Schwindel und Übelkeit aufzuklären („Motion Sickness“). Lehrkräfte sollten auch für diesen Fall geeignete Alternativen bereitstellen.
Prinzip 3: Erhalt der Autonomie
VR eignet sich sehr gut für die Schaffung einprägsamer Erfahrungen. In der Literatur wird jedoch verstärkt das Risiko einer Abnahme der Autonomie der Lernenden hervorgehoben. In jedem Fall sollten Lehrkräfte zum Erhalt der Autonomie darauf achten, dass Lernumgebungen keine manipulativen Komponenten enthalten (Skulmowski, 2023; Slater et al., 2020). VR-Welten bieten durch ihre lebensnahe und teilweise hochrealistische Anmutung ein viel größeres Potenzial, Lernende zu beeinflussen, als andere Medien (Skulmowski, 2023; Slater et al., 2020). So könnte eine VR-Umgebung beispielsweise so gestaltet sein, dass die Interaktion mit einer bestimmten Personengruppe immer positive Folgen hat, die Interaktion mit einer anderen Gruppe jedoch vorwiegend negativ abläuft. Dies könnte leicht Vorurteile und negative Stereotypen erzeugen. Auch sollte der Realismusgrad veränderbar sein, um eine kritische Distanz zu den Inhalten bewahren zu können (Slater et al., 2020). So kann vermieden werden, dass Schüler:innen die Inhalte ohne weiteres Nachdenken akzeptieren und sich nicht weiter mit ihnen auseinandersetzen.
Gleichzeitig ist es denkbar, dass die Glaubwürdigkeit von virtuellen Lernmedien höher ausfällt, wenn Schüler:innen keine Anzeichen für eine Beeinflussung entdecken können. Hierbei entsteht ein komplexes Spannungsfeld zwischen dem Wunsch von Lehrkräften, ihren Schüler:innen bestimmte Inhalte, Werte und Überzeugungen zu vermitteln, hierbei aber nicht auf eine autonomiegefährdende Methode zu setzen.
Prinzip 4: Sicherung des Datenschutzes
Das Ausmaß der durch VR-Geräte ermöglichten Datensammlung wird oft verkannt. Aktuelle VR-Geräte erfassen die Position des Geräts und der dazugehörigen Steuerelemente, und somit auch Verhaltensdaten. Basierend darauf können weitere Analysen vorgenommen werden, z. B. wie zögerlich Lernende sind, wie gewissenhaft sie arbeiten oder wie erfolgreich sie die Lernziele erreichen. Aus diesen Analysen lassen sich detaillierte Persönlichkeitsprofile zusammenstellen (Skulmowski, 2023).
Insbesondere bei der Nutzung von Geräten oder Anwendungen, welche Daten der Nutzenden in Länder mit geringem Datenschutzniveau versenden, können sich vielfältige Nutzungsszenarien der Daten ergeben, wie z. B. der Weiterverkauf an Recruitingdienstleister:innen (Skulmowski, 2023). Daher ist für eine ethische Nutzung geboten, dass den Schüler:innen keine Chancen durch im späteren Lebensweg negativ wirkenden Daten verbaut werden.
Berücksichtigen Lehrkräfte die oben beschriebenen Prinzipien bei der Planung ihres Unterrichts mit VR-Technologie, können sie davon ausgehen, dass wesentliche ethische Aspekte der Nutzung von VR-Technologie in der Schule abgedeckt sind.
Dieser Beitrag ist in ausführlicher Form auch als schule-mal-digital.de-Kurzbeitrag Wie lässt sich Virtual Reality ethisch vertretbar im Unterricht einsetzen? im Rahmen des Themenschwerpunkts Lernen und Unterrichten mit Virtual und Augmented Reality erschienen. Er wurde vom Redaktionsteam von schule-mal-digital.de und des Zukunftsraums betreut.
Vertiefung
In diesem Bereich finden Sie Literatur, Materialien und Links, um sich noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen, und die Quellenangaben für den Beitrag.
Quellen
Jun.-Prof. Dr. Alexander Skulmowski
Alexander Skulmowski ist Juniorprofessor für Digitale Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und dort stellvertretender Leiter des Instituts für Informatik und digitale Bildung. Als Pädagogischer Kognitionswissenschaftler untersucht er die Lernförderlichkeit digitaler Bildungsmedien sowie die ethischen Implikationen neuester Technologien. Mit seiner Forschung trägt er dazu bei, die Chancen und Risiken der Digitalisierung differenziert zu analysieren, empirisch zu untersuchen und theoretisch zu kontextualisieren. Sein Fokus liegt dabei auf den kognitiven Effekten von Lernmedien.