Audio-Interview30. Januar 2025von ‎ Maren Gebhardt und Dr. Irina Brich mit Prof. Dr. Volker FrederkingLaufzeit: 22 Minuten

Textsouverän! Wie digitale Texte den Deutschunterricht verändern

Soziale Medien, symmediale Textwelten im Internet oder textbasierte KI-Systeme: Sie alle haben direkten Einfluss auf den Deutschunterricht. Prof. Dr. Volker Frederking, Leiter des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der FAU Erlangen-Nürnberg, erläutert im Gespräch die Herausforderungen, die dahinter stehen, und warum es sich für Schüler:innen trotz ChatGPT lohnt, Texte selbst zu verfassen.

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Takeaways
  • Neue Textwelten: Das Spektrum der Mediennutzung erweitert sich und damit verändern sich auch die Lerngegenstände des Deutschunterrichts. Neben die analogen Medien wie das Buch oder die gedruckte Zeitung treten digitale Texte. Diese sind multimodal bzw. symmedial aufgebaut und sprechen verschiedene Sinne gleichzeitig an. Überdies werden über Links hypertextuelle Bezüge im Internet generiert. Die Rezeption eines multimodalen digitalen Textes aus Schrift, Bild, Ton, Film und hypermedialen Verlinkungen stellt daher weit mehr Anforderungen als das Lesen eines printmedialen Textes.

  • Digitale Textsouveränität: Die digitale Textwelt (im Internet) ist vielfältig und faszinierend. Zugleich stellen Filterblasen, Influencing oder Fake News uns, unsere Wahrnehmung und unseren Umgang mit Informationen auf eine existenzielle Probe. Zu den erweiterten Aufgaben des Deutschunterrichts gehört es, die Jugendlichen dazu zu befähigen, alle Ebenen der digitalen Textwelt zu rezipieren, zu verstehen und persönliche sowie gesellschaftlich-ethische Konsequenzen zu reflektieren.

  • Chat GPT und Deutschunterricht: Gerade im Deutschunterricht führt ChatGPT zu Entwicklungen, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben. Schüler:innen können von der Unterstützung beim Verfassen von Texten profitieren. Im Sinne der digitalen Textsouveränität empfiehlt es sich jedoch zugleich, in Bezug auf die inhaltliche und faktische Kohärenz die Hoheit über den Schreibprozess zu behalten.

Im Rahmen des Zukunftsraums auf lernen:digital blicken wir heute auf die Zukunft des Faches Deutsch. Die Kompetenzbereiche im Fach Deutsch sind Sprechen und Zuhören, Schreiben, Lesen, Sprache und Sprachgebrauch reflektieren: Es geht im Deutschunterricht um menschliche Kommunikation. Mit dem Einzug der Digitalität verändern sich Kommunikation und Sprache und damit auch der Deutschunterricht. Sie haben das Konzept der digitalen Textsouveränität für den Deutschunterricht ins Spiel gebracht. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Volker Frederking: Damit ist eine meines Erachtens notwendige und signifikante Erweiterung der Aufgaben des Deutschunterrichts verbunden. Bezugspunkt ist der Sachverhalt, dass digitale Texte etwas völlig anderes sind als analoge Texte, ob sie nun gedruckt oder per Hand geschrieben sind. Analoge Texte bestehen in der Regel aus Schriftelementen, zuweilen ergänzt durch Bilder, beispielsweise in einer Zeitung oder in einem Buch. Bei digitalen Texten im Internet haben wir es mit ganz anderen Phänomenen zu tun und damit verbunden auch mit anderen Rezeptionsanforderungen. Ein digitaler Text ist strukturiert in verschiedene Textelemente, in schriftsprachliche Elemente, in Bildelemente, er weist oftmals aber auch Tonelemente und Filmelemente auf, ergänzt um hypertextuelle Verbindungen wie Likes und Dislikes. Es handelt sich also um eine erweiterte Symbolsprache, die mit digitalen Texten verbunden ist. Diese ist komplex und stellt sehr viel umfassendere Anforderungen als das Lesen eines printmedialen Textes.

„Digitale Texte machen es erforderlich, auf der Ebene des Deutschunterrichts nachzujustieren. Wir müssen das Spektrum, für das wir uns als Fach zuständig fühlen, um die Ebene digitaler Texte und ihrer Spezifika erweitern. “

Prof. Dr. Volker Frederking

Das ist ein Sachverhalt, der empirisch noch nicht hinreichend erforscht ist. Wir werden das in unseren Forschungen zur digitalen Souveränität im Rahmen unserer Projekte in lernen:digital mit in den Blick nehmen und versuchen, hier in Ansätzen auch entsprechende Grundlagenforschung zu betreiben. Fest steht aber schon jetzt: Digitale Texte machen es erforderlich, auf der Ebene des Deutschunterrichts nachzujustieren. Wir müssen das Spektrum, für das wir uns als Fach zuständig fühlen, um die Ebene digitaler Texte und ihrer Spezifika erweitern.

Für das Phänomen, dass digitale Texte neben literalen oft auch piktorale, auditive und audiovisuelle Elemente enthalten, gibt es verschiedene Begrifflichkeiten. In den 90er-Jahren hat man von der Multimedialität digitaler Texte gesprochen (Issing & Klimsa, 1995). Ich selbst habe den Begriff Symmedialität ergänzend vorgeschlagen (Frederking, 2014, 2024a), um deutlich zu machen, dass diese einzelnen medialen Elemente zumeist nicht isoliert auf einer Seite im Netz stehen, sondern einen semantischen und/oder idiolektal-formalen Bezug aufweisen. Das heißt, sie bilden einen medialen Verbund. Eine weitere Begrifflichkeit, die für Deutschlehrkräfte an Bedeutung gewinnt, ist der der Multimodalität (Murray, 2009; Siefkes, 2014; Wildfeuer, Bateman & Hiippala, 2020; Jaki et al. 2024). Bezeichnet wird damit der Sachverhalt, dass wir es bei digitalen Texten immer mit literalen, piktoralen, auditiven und audiovisuellen Elementen zu tun haben, die jeweils unterschiedliche Sinne in kommunikativer Absicht ansprechen: den Sehsinn, den Hörsinn, die Verbindung von Sehen und Hören. Ich plädiere allerdings eher dafür, auch die synästhetische Qualität digitaler Texte mitzubedenken und wahrzunehmen. Synästhetik bezeichnet das Verschmelzen sinnlicher Wahrnehmungen (Frederking, 2014, 2024a).

Das Phänomen gibt es eigentlich seit der Erfindung des gesprochenen Wortes. Wenn der Prosode in der Antike einen Text rezitierte, tat er dies mit Körpereinsatz. Stimme, Mimik und Gestik bildeten eine synästhetische Einheit. Das Theater basiert ebenfalls auf solchen synästhetischen medialen Verschmelzungen von Stimme, Mimik und Gestik. Gleiches gilt für den Film, der in technischer Form die Bildebene und die Tonebene zusammenbringt und uns im Rezeptionserleben den Eindruck vermittelt, es handele sich um eine Einheit. Das ist Synästhetik. Diese ist auch in den digitalen Medien ein sehr verbreitetes Element, das wir auf einer Webseite antreffen, aber noch stärker zum Beispiel in Computerspielen oder in VR-Anwendungen. Jeweils handelt es sich um Verschmelzungen von sinnlichen Wahrnehmungen, die im digitalen Medium intendiert bzw. ermöglicht werden.

Diese neuen Erfahrungen bzw. Erfahrungsmöglichkeiten sind hervorragend. Aber es gibt eben auch problematische Facetten, weil digitale Manipulationen gerade mit diesen synästhetischen Elementen in suggestiver Form arbeiten. Daraus ergibt sich eine weitere Aufgabe des Deutschunterrichts: Im Verbund mit anderen Fächern – zum Beispiel Kunst, Musik oder Filmwissenschaft – Rezeptionskompetenzen zu erweitern bzw. zu schärfen. Dies versuchen wir in den DiSo- und DiäS-Projekten in lernen:digital im Konzept der digitalen Souveränität.

 


Digitale Textsouveränität

Digitale Textsouveränität ist im Diskurs um digitale Souveränität verortet, setzt mit dem Fokus auf digitale Textualität aber einen spezifischen Schwerpunkt. Da die digitale Welt eine komplex strukturierte digitale Textwelt ist, eine Art digitaler MetaText, der aus einer infiniten Menge digitaler Einzeltexte besteht, zielt digitale Textsouveränität auf nicht weniger ab als auf die selbstbestimmte rezeptive und produktive Partizipation an dieser digitalen Textwelt des Internets, in der sich die digitale Weltgesellschaft in einem unabschließbaren Prozess auf Basis digitaler Texte selbst erschafft (Frederking, 2024). Die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Sachverhalts sind weitreichend. Da alle Operationen im Netz auf Basis bzw. in Form digitaler Texte erfolgen, bezeichnet digitale Textsouveränität eine Schlüsselkompetenz für die Teilhabe und das souveräne Agieren in der digitalen Weltgesellschaft. Die Fähigkeit zur Rezeption und Produktion digitaler Texte ist folglich Voraussetzung und Grundlage digitaler Souveränität im politischen, wirtschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen, juristischen, kulturellen und bildungspolitischen Bereich.

Für den Deutschunterricht haben wir mit dem Konstrukt der digitalen Textsouveränität eine erweiterte theoretische Basis entwickelt, indem wir die Textualität im Verbund mit der Medialität in den Blick nehmen. Damit sind tatsächlich umfassendere Implikationen verbunden. Ich glaube, dass der Muttersprachenunterricht weltweit enorm an Bedeutung gewinnen wird. Er müsste deshalb auch mehr Stunden bekommen. Schließlich lässt sich das gesamte Internet als eine digitale Textwelt verstehen, die aus einer infiniten Menge digitaler Einzeltexte besteht, die über Verlinkungen in einem Zusammenhang stehen. Das rezipieren zu können, setzt völlig neue Nutzungskompetenzen im Umgang mit dieser digitalen Textwelt voraus. Zugleich ist der Aufbau einer reflexiven Haltung erforderlich, um sich bestimmte Prozesse zu verdeutlichen. Auch das gehört zur digitalen Textsouveränität.

Digitale Textsouveränität besitzt mit anderen Worten eine funktionale und eine personale Seite. Die Fähigkeit, digitale Tools zu bedienen, ist das eine. Die Fähigkeit, sich über die persönlichen Konsequenzen, aber auch die gesellschaftlich-ethischen Konsequenzen Gedanken zu machen, ist die andere Dimension. Beide Fähigkeiten benötigen gerade auch Heranwachsende. Sie nutzen die digitalen Medien in selbstverständlicher Form, aber was die Wirkungen anbelangt, sind sie manchmal noch zu blauäugig – so wie wir Erwachsenen zuweilen auch. Wir alle müssen über die Besonderheiten digitaler Medien mehr wissen und lernen, über ihre Wirkungen auf uns und unser Leben kritisch-selbstkritisch nachzudenken.

 

Sie sagen, gerade Texte im Internet sind meistens synästhetische Texte. Vielleicht erfordert das eine ganz andere Ausbildung von Deutschlehrkräften? Sie haben schon erwähnt, dass Filmwissenschaft zum Verständnis von digitalen Texten gehört, ebenso Musik und Kunst. Das kann eine Deutschlehrkraft entweder so nicht leisten oder die Ausbildung muss sich tiefgreifend verändern, dass man sagt, es gibt zum Beispiel ein Fach „ästhetische Ausbildung“?

Volker Frederking: Das wäre hervorragend, das kann ich mir gut vorstellen. Allerdings glaube ich, dass der fachliche Nukleus erhalten bleibt. Schreiben und Lesen sind Kompetenzbereiche des Faches Deutsch, Kulturtechniken, die eigentlich immer der Muttersprachenunterricht vermittelt, auch in internationaler Betrachtung, obwohl das eine Kompetenz ist, die in den meisten anderen Fächern auch von Bedeutung ist. Nichtsdestotrotz muss ein Fach dafür verantwortlich sein, solche Fähigkeiten anzubahnen und zu vertiefen. So hat jedes Fach seinen Kern. Andererseits gibt es gerade durch die digitalen Medien die Möglichkeit und die Notwendigkeit, auch über den Tellerrand des Faches hinauszuschauen und interdisziplinär zu arbeiten. Wie eben angedeutet, lädt beispielsweise die Rezeption eines multimodalen, symmedialen oder synästhetischen Textes dazu ein, auch das Wissen aus den Bereichen Kunst und Musik in einem Projekt zusammenzubringen und gemeinsam zu schauen, zu hören, wahrzunehmen und darüber zu reflektieren. Ob man dazu ein neues Fach braucht, sei dahingestellt. Das geht immer zulasten anderer Fächer. Wir schaffen damit eher Probleme und lösen die anderen nicht. Eine Sensibilisierung für die Ästhetik digitaler Texte und ihre „Message“ müssen hingegen viele Fächer entwickeln, nicht nur Deutsch, Kunst und Musik. Wer z.B. in Politik oder Geschichte Fake News oder Desinformationskampagnen in den Blick nehmen will, sollte neben politischen oder historischen Kategorien auch ästhetische mit einbeziehen. Es ist mit anderen Worten Wissen erforderlich, wie Wirkung erzeugt wird. Auch hier könnte man sehr schön in den Fächern zusammenarbeiten.

Aber man kann auch im Fach Deutsch allein in basaler Form Seh- und Hörprozesse anregen und reflektieren. Wir haben in Deutsch schon immer Hörtexte rezipiert und analysiert. Die Hörästhetik ist Teil des Faches Deutsch. Wir haben eben nicht nur Lesen und Schreiben, auch Sprechen und Zuhören sind Kompetenzbereiche des Faches Deutsch. Sehen ist nicht so verankert, aber es gibt natürlich die bildliche Illustration, die wir bei der Analyse eines gedruckten Textes immer schon mit hinzunehmen.

Kurzum, Deutschlehrkräfte haben eine gewisse Expertise im Bereich der ästhetischen Wahrnehmung, und im Verbund mit anderen Fächern lassen sich – zum Beispiel in Projektform – sehr schön komplexe ästhetische Verstehensprozesse für digitale Angebote initiieren und reflektieren.

Ich würde gerne noch einmal genauer auf das Fach Deutsch schauen. Das Fach erfährt gerade durch ChatGPT nochmal eine besondere Veränderung, weil er den Deutschunterricht in seinem Kern trifft, nämlich die Rezeption und Produktion von Texten. Schülerinnen und Schüler bauen in einem jahrelangen Prozess die Fähigkeit auf, Texte zu verfassen. Sie schreiben Erörterungen, Textanalysen, Argumentationen. Aber im Grunde sind es alles Textmuster, die ChatGPT auch kann und sogar schneller kann. Wie könnte man solche Tools in den Deutschunterricht einbinden, um ihre produktive Seite sinnvoll zu nutzen und vielleicht auch den Schülerinnen und Schülern plausibel zu machen, dass es sich doch noch lohnt, selbst einen Text zu verfassen?

Volker Frederking: Das ist eine sehr gute Frage. ChatGPT kam über Nacht über uns, ganz plötzlich, eruptiv, es war im November, Dezember 2022, und es hat die Welt ein Stück weit verändert. Die sprachliche Produktion sprachlicher Gegenstände durch eine Technik, das ist wirklich ein Paradigmenwechsel. Für den Deutschunterricht sind die Folgen meines Erachtens janusköpfig, d. h. positiv wie negativ.

Vielleicht beginnen wir mit den positiven Elementen. Ja, ChatGPT kann sehr viel, was Schüler und Schülerinnen auch können sollen. Thorsten Steinhoff und Carolin Führer haben jüngst in zwei Publikationen sehr schön aufgezeigt, wie gerade Schreibprozesse durch ChatGPT begleitet bzw. unterstützt werden können. Thorsten Steinhoff (2023) hat das schon in der Überschrift seines Artikels so formuliert: „Der Computer schreibt (mit)“. Man kann textgenerative KI wie ChatGPT als Schreibassistenten einsetzen, sagen Carolin Führer und Peter Gerjets (2024). Zum Beispiel könne man sich von ChatGPT den Anfang eines Textes in der Erörterung präsentieren lassen oder Vorschläge, wie man einsteigt. Natürlich kann man auch sagen, „Schreibe meine Erörterung zum Thema so und so“. Schlechte oder faule Schülerinnen und Schüler könnten geneigt sein, sich mit dem entstandenen Textergebnis zufrieden zu geben. Allerdings wäre das eine schlechte Entscheidung, einerseits, weil auf diese Weise kein eigener Kompetenzaufbau stattfindet, andererseits, weil die von ChatGPT erzeugten Texte oft so gut nun auch wiederum nicht sind. Das hängt damit zusammen, worauf ChatGPT basiert. Es sind Textmuster, die das System gelernt hat, “lernen“ in Anführungszeichen. Die hat das System verfügbar und bastelt nach wahrscheinlicher Akzeptanz Textmuster, von denen es annimmt, dass diese für Rezipient:innen positiv konnotiert sind, d.h. dass diese das Ergebnis wertschätzen. Wenn man sich jetzt aber die Ergebnisse anguckt, ist in zweierlei Hinsicht Vorsicht geboten.

Ich will das an Experimenten verdeutlichen, die ich im Rahmen unseres Projekts ‚Digitale Souveränität‘ für das Fach Deutsch durchgeführt habe. Ich habe ChatGPT systematisch befragt. Ich begann sowohl in ChatGPT 3 als auch in der Version 4 jeweils mit der Bitte, eine Deutung des Prologs im Himmel in Goethes Faust zu erzeugen. Die Textdeutungen waren auf den ersten Blick ansprechend, eine Erläuterung von Problemfeldern, die im Prolog im Himmel tatsächlich vorhanden sind. Sprachlich war das kein brillanter Stil, aber gut. Ein genauerer Blick allerdings zeigte: das Ergebnis ist von der Deutungsebene her eigentlich zumeist eher oberflächlich, wenig differenziert, ohne wirkliche gedankliche Vertiefungen. Was aber vor allen Dingen fehlte, waren Belege am Text! ChatGPT produzierte als ersten Deutungsentwurf anderthalb Seiten ohne ein einziges Zitat. Zitate sind als Textbelege wissenschaftlich aber immer ein Gütekriterium. In den Geisteswissenschaften müssen wir unsere Deutungen am Text belegen. Das lernt jeder Schüler, jede Schülerin schon in der späten Mittelstufe. Es gehört zum Standardrepertoire. Das beherrscht ChatGPT nicht. Ich habe ChatGPT dann aufgefordert, Textbelege für die Deutungsvorschläge zu liefern. Das Ergebnis war geradezu schockierend. Ich machte da die gleiche Erfahrung wie Teresa Kubacka, eine Physikerin, die ein oder zwei Wochen nach der Einführung von ChatGPT dem ChatBot Fragen zum Thema ihrer Doktorarbeit als Experiment gestellt hatte (Kubacka, 2022). Das Ergebnis: ChatGPT produzierte Falschmeldungen und falsche Aussagen. Noch schlimmer: das System hat völlig neue Sachverhalte erfunden und diese mit erfundenen Quellen belegt. Daher war ich bei meinen eigenen Versuchen mit ChatGPT sensibilisiert und habe die Prolog-Deutung im Faust folglich genau überprüft. Das Ergebnis: die Hälfte der vom ChatBot gegebenen Textbelege war falsch und die dabei angegebenen Quellen waren erfunden. Da kann man mit Sam Altman (2022), dem CEO von OpenAI, sagen: „Ja, das System halluziniert“, das sagte er ein, zwei Wochen nach Einführung von ChatGPT. Dieser Begriff hat sich etabliert. Ich finde, das ist ein Euphemismus. In Wahrheit handelt es sich doch um falsche Aussagen, das ist Post-Truth, was da produziert wird. Im Deutschunterricht bekommt ein Schüler oder eine Schülerin die Note fünf oder sechs, wenn eine Lehrkraft solch einen fahrlässigen Umgang mit der Wahrheit bemerkt. Und wissenschaftlich ist es suizidal, so zu operieren. Man kann tatsächlich nur hoffen, dass die Nutzer und Nutzerinnen wirklich wissen, wo die Stärken und Schwächen des Systems liegen. So kann man das System nutzen, um Schreibprozesse zu optimieren. Matthias Brodkorb hat einen von ihm verfassten Artikel, der sich kritisch mit ChatGPT auseinandersetzte (Brodkorb, 2023), durch ChatGPT am Ende gegenlesen und stilistisch optimieren lassen, und er meinte, der Artikel sei besser geworden. Das kann man tun, aber die Fakten muss man selbst liefern und prüfen.

 

„[…] ChatGPT ist nicht zu Metareflexion fähig. Es weiß nicht, warum es welche Deutungen erzeugt und kann sie auch nur in Ansätzen begründen. Dem System fehlt mit anderen Worten die Fähigkeit zum Verstehen, zum Begründen und zum eigenständigen Denken. “

Prof. Dr. Volker Frederking

Ich möchte positiv schließen. Wir haben im Rahmen von DFG-Projekten mit insgesamt 4000 Schülerinnen und Schülern untersucht, ob literarisches Verstehen etwas anderes ist als Leseverstehen und konnten dies empirisch nachweisen (Frederking, 2022). In diesem Zusammenhang sind Testaufgaben entstanden zu bestimmten literarischen Texten, die wir eingesetzt haben. Einige dieser Testaufgaben habe ich ChatGPT gegeben mit der Bitte, sie zu lösen. Der ChatBot bekam also die literarischen Bezugstexte und erhielt dazu unsere Fragen bzw. Testaufgaben. Die Qualität der Lösungsantworten war relativ gut. Allerdings sind die erzeugten Ergebnisse nicht identisch, sondern variieren von Anwendung zu Anwendung, wie Jörn Brüggemann, Carina Ascherl und Laureen Okesson in systematischen Experimenten in unserer DiSo-Forschungsgruppe zeigen konnten. Dennoch scheint es so, dass ChatGPT, sobald es den Bezugstext einer Frage mitgeliefert bekommt oder ihn kennt, eher zu brauchbaren bzw. angemessenen Ergebnissen gelangt als ohne diesen Bezugstext. Wenn man dies weiß, kann man im Deutschunterricht gezielt mit ChatGPT o.ä. arbeiten und ihm zur Beantwortung von Aufgaben den literarischen Bezugstext hinzugeben. Gleichzeitig muss man sagen, dass das System selbst dann noch limitiert ist. Denn ChatGPT ist nicht zu Metareflexion fähig. Es weiß nicht, warum es welche Deutungen erzeugt und kann sie auch nur in Ansätzen begründen. Dem System fehlt mit anderen Worten die Fähigkeit zum Verstehen, zum Begründen und zum eigenständigen Denken.

ChatGPT ist aber noch aus anderen Gründen eine radikale Herausforderung für digitale Textsouveränität. Denn Schülerinnen und Schüler müssen in der Lage sein zu prüfen, was in den durch ChatGPT erzeugten Aussagen wahr ist und was falsch. Wer einen Text im Internet liest, weiß aber in der Regel nicht, ob er von einem Menschen verfasst wurde oder von einem Chatbot stammt – es sei denn, wir bekommen juristische Regelungen, die verbindlich vorschreiben, dass ein im Internet präsentierter Text überprüfbare Angaben enthält, ob er von diesem oder jenem Menschen verfasst oder durch KI generiert wurde. Solange es diese verbindlichen Regelungen nicht gibt, müssen wir einen Text, den wir im Internet rezipieren, sehr kritisch überprüfen – z. B. mit Fragen wie: Wer hat ihn verfasst? Stimmen die Quellen? Dies sind zentrale Elemente digitaler Textsouveränität.

Überdies sind natürlich die Wahrheitsfrage, die Frage nach ethischen Implikationen und die Argumentationsmuster in den Blick zu nehmen (Frederking, 2024a). Orientieren kann man sich überdies an einem Prinzip, das in der Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauss (1967) für literarische Texte entwickelt wurde: Es gilt, die Fragen zu ermitteln, auf die der Text eine Antwort zu geben versucht. In einem Aufsatz habe ich erläutert, dass man dieses Muster auch auf digitale Texte und ihren potenziellen KI-Ursprung anwenden kann (Frederking, 2023). Leitend könnte in diesem Sinne hier die Frage sein: Welche Prompts könnten dem Text zugrunde liegen, auf die er eine Antwort zu geben versucht. In jedem Fall ist es erforderlich, sich die digital präsentierte Textwelt genau anzuschauen und die Entstehung zu hinterfragen.

Das skizziert nochmal sehr deutlich, vor welchen Herausforderungen Jugendliche, aber auch wir Erwachsenen mit ChatGPT und dem Text- oder Quellenverhalten im Internet stehen. Dazu kommen Phänomene wie Algorithmen, die Filterblasen erzeugen oder eben Fake News, die Sie schon erwähnt haben. Wenn wir mit diesen ganzen Phänomenen im Hinterkopf und dem, was Sie an Herausforderungen skizziert haben, auf den Deutschunterricht in fünf Jahren schauen, wie sieht denn dann eine Deutschstunde aus? Ist es überhaupt noch eine Deutschstunde?

Volker Frederking: Ja, ich würde sagen, das ist eine Deutschstunde, vielleicht zuweilen in Kooperation mit anderen Fächern. Fünf Jahre sind jedoch wenig für Bildungssysteme, bis Veränderungen greifen. Sagen wir mal zehn Jahre.

Aber für die digitale Welt sind fünf Jahre wiederum viel.

Volker Frederking: Da haben Sie vollkommen recht. Das ist ein Stück weit ein Dilemma. Ob fünf oder zehn Jahre, was ich mir wünschen würde, ist erstens, dass tatsächlich so etwas wie digitale Souveränität oder Textsouveränität einen festen Platz im Deutschunterricht der Zukunft hat, nicht zuletzt, weil vom souveränen manipulationsresistenten Umgang mit digitalen Texten das Überleben der Demokratie in der westlichen Welt abhängt (vgl. z.B. Sanders & Schneider, 2023). Unsere Heranwachsenden müssen in der Lage sein, digitale Texte hinreichend auf mehreren Ebenen zu lesen und kritisch zu überprüfen, um nicht Opfer von Desinformationen und Propaganda zu werden. Hier muss in den Curricula eine neue Verantwortlichkeit verankert und im Unterricht praktisch mit Leben gefüllt werden, um unsere Schüler und Schülerinnen zu befähigen, mit digitalen Manipulationen souverän umzugehen. Fake News-Resilienz ist ein wichtiges Element von digitaler Textsouveränität. Hinzu kommt eine ästhetische Verstehens- und Gestaltungskompetenz. Wir haben eben über ChatGPT gesprochen. Mittlerweile gibt es ja nicht nur textgenerative KI, sondern auch von ChatGPT und anderen Tools generierte Audio- und Videofiles. Schülerinnen und Schüler sollten im Deutschunterricht die Möglichkeit erhalten, unter reflektierter Nutzung entsprechender Tools multimodale digitale Texte, die neben literalen auch piktorale, auditive oder audiovisuelle Elemente enthalten, selbst zu produzieren und ästhetisch zu gestalten. Sie sollten aber ebenso befähigt werden, bei der Rezeption solcher multimodalen digitalen Texte ästhetische Strategien zu erfassen und Manipulationsabsichten zu durchschauen. Dies schließt Deepfakes ein, also manipulierte Videos, in denen falsche Tonspuren in einem Film den Eindruck erwecken, die im Bild dargestellten Menschen hätten die auf der Tonspur enthaltene Äußerung tatsächlich getätigt. Die Fähigkeit, solche Manipulationen bzw. Desinformationen zu erkennen, ist ein Element digitaler Textsouveränität und stellt einen zukünftigen Aufgabenbereich des Deutschunterrichts dar (Frederking, 2024a).

Das Spektrum unseres Faches erweitert sich und daher müssen wir dynamisch die Entwicklungen mit didaktischen Konzepten begleiten – ein Erfordernis, dem wir in unseren DiSo- und DiäS-Projekten im Rahmen von lernen:digital Rechnung zu tragen versuchen. Hier bieten wir z.B. für das Fach Deutsch Teilmodule zum Umgang mit Desinformation und Fake News, zu Online-Journalismus, zu digitaler toxischer Sprache, zu Antisemitismusprävention, zu VR, zu KI, zu multimodaler digitaler Ästhetik u.a. an. Solche Angebote zum souveränen Umgang mit den besonderen Herausforderungen und Chancen digitaler Texte sind wichtige Elemente einer Zukunftsvision von gutem Deutschunterricht in der digitalen Welt.

„Ich denke, dass die durch PISA eingeleitete Konzentration auf Kompetenzen dringend erweitert werden muss im Hinblick auf personale Lehr-/Lernprozesse […].“

Prof. Dr. Volker Frederking

Hinzu kommt ein Aspekt, der auf den ersten Blick ganz anderes fokussiert, damit aber gleichwohl zu tun hat: Ich denke, dass die durch PISA eingeleitete Konzentration auf Kompetenzen dringend erweitert werden muss im Hinblick auf personale Lehr-/Lernprozesse, nicht nur im Rekurs auf Wilhelm von Humboldt (2010 [1793]), sondern auch im Rekurs auf John Dewey (1997 [1938]) und George Herbert Mead (2016 [1911]), zwei amerikanische pragmatische Pädagogen und Psychologen. Learning by Doing stammt von John Dewey und die Verbindung von fachlichem Lerngegenstand und lernendem Subjekt ist eine Idee von George Herbert Mead. Das sind Konzepte, an die man anknüpfen kann. Wir müssen dazu kommen, dass Lernende wieder stärker selbst aktiv und selbstreflexiv mit den Lerngegenständen im Fach Deutsch und in anderen Fächern in Kontakt kommen und sich nicht nur funktional-sachorientiert mit ihnen auseinandersetzen. Dies bedeutet z.B. für den Umgang mit literarischen Texten im Literaturunterricht: Es genügt nicht, ein Gedicht interpretieren zu können, ich muss auch gelernt haben, zu reflektieren, welche Gefühle und Gedanken das Gedicht in mir auslösen kann oder soll. Gleiches gilt für digitale pragmatische Texte. Welche Gefühle und Vorstellungen sollen evoziert werden? Welche Absichten sind damit verbunden? Welche Textsignale steuern meine Reaktionen? Schülerinnen und Schüler müssen die Möglichkeit erhalten, im Deutschunterricht über solche Fragen nachzudenken. Das ist die personale Seite von Bildungsprozessen im Allgemeinen und von fachlichen Bildungsprozessen im Besonderen. Gemeinsam mit dem Biologiedidaktiker Horst Bayrhuber habe ich dafür die Unterscheidung zwischen funktional und personal ausgerichteter fachlicher Bildung eingeführt (Frederking & Bayrhuber, 2020; Bayrhuber & Frederking, 2024). Personale fachliche Bildung, die auf die Ausbildung einer selbstreflexiven Haltung im Horizont des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses zielt, ist wichtig, weil sie die Identitätsbildung von Heranwachsenden unterstützt und die Lernbereitschaft erhöht. Letzteres haben wir in empirischen Erhebungen zeigen können, in denen wir solche funktionalen und personalen Lehr-/Lernprozesse bei Schülerinnen und Schülern initiiert und empirisch untersucht haben (Frederking, 2024b; Brüggemann et al., 2024). Da hat sich sehr deutlich gezeigt, dass sich ein vertieftes Interesse und auch eine Begeisterung in Unterrichtsprozessen empirisch abbildet, in denen es zu einer subjektiven, emotionalen und kognitiv-selbstreflexiven Aktivierung der Lernenden kommt und sie Raum bekommen, darüber nachzudenken, was ein Lerngegenstand – im untersuchten Fall handelte es sich um Gedichte – für sie als Menschen und ihr Leben ganz persönlich bedeutet. In den DiSo und DiäS-Projekten versuchen wir zu zeigen und Lehrkräften zu vermitteln, dass dies auch für sprachliches, literarisches und mediales Lernen in der digitalen Welt gilt.

Vielen Dank für das anregende Gespräch.

Prof. Dr. Volker Frederking

Volker Frederking hat Deutsch, Geschichte, Philosophie, Latein und Religion auf Lehramt (Sek I/II) an den Universitäten Münster und Bielefeld studiert und mehrere Jahre an Gymnasien in NRW unterrichtet. Seit 2000 hat er den Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg inne. Er ist Autor von über 220 Publikationen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen literatur-, sprach- und mediendidaktischen Bildungsforschung. Im Rahmen von DFG-Projekten hat er literarische Verstehens- und Urteilskompetenz erforscht (LUK) und die Bedeutung von Subjektivität und Emotionalität in Gesprächen über Literatur im schulischen Deutschunterricht in einer Längsschnittstudie untersucht (SEGEL). Außerdem erforscht er Fragen einer Allgemeinen Fachdidaktik und fachlicher Bildung mit personalem und funktionalem Fokus. Aktuell leitet er gemeinsam mit Prof. Jörn Brüggemann (Universität Bamberg) die beiden vom BMBF geförderten Forschungsverbünde DiSo und DiäS, in denen ca. 50 Kolleg:inn:en aus 16 Universitäten bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen ‚Digitale Souveränität‘ als Ziel innovativer Fortbildungskonzepte für Lehrkräfte der sprachlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ästhetischen Fächer entwickeln, empirisch überprüfen und disseminieren.

Vertiefung

In diesem Bereich finden Sie Literatur, Materialien und Links, um sich noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen, und die Quellenangaben für den Beitrag.

‎ Maren Gebhardt
Maren Gebhardt gehört zum Redaktionsteam des Zukunftsraums, der zur Wissenschaftskommunikation des Kompetenzverbund lernen:digital beiträgt. Sie arbeitet am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Forschungsbasierter Transfer zum Einsatz digitaler Medien in der Lehre. Sie studierte Germanistik und Altphilologie in Tübingen sowie Kunsterziehung an der Bauhaus Universität Weimar (Erstes Staatsexamen). Sie unterrichtete an Schulen und Hochschulen und gestaltete in Kommunikationsagenturen außerschulische Lernorte sowie Unterrichtsmedien mit der Spezialisierung auf die Zielgruppe Lehrkräfte und Bildungsakteur:innen.
Dr. Irina Brich

Irina Brich gehört zum Redaktionsteam des Zukunftsraums, der zur Wissenschaftskommunikation des Kompetenzverbund lernen:digital beiträgt. Sie arbeitet am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Forschungsbasierter Transfer zum Einsatz digitaler Medien in der Lehre. Sie studierte Psychologie and der Universität Tübingen mit den Schwerpunkten Wissens-, Kommunikations- und Medienpsychologie und promovierte (2020, Uni Tübingen/IWM) über die kognitiv vorteilhafte Gestaltung der Interaktion von Mensch und innovativer Technologie. Weiter forschte sie zu Verstehensprozessen bei Comics und zur Wahrnehmung von Risiken im Umgang mit KI.