
DiSo-SGW: „Wir möchten Lehrkräften in unseren Fortbildungen zeigen, wie sie die Fähigkeit, im Fachunterricht digital souverän zu agieren, erwerben und erweitern können.“
Der Projektverbund „Digitale Souveränität als Ziel wegweisender Lehrer:innenbildung für Sprachen, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften in der digitalen Welt“ (DiSo-SGW) entwickelt Fortbildungen für die Fächer Deutsch, Deutsch als Zweitsprache, Englisch/Romanische Sprachen, Geografie, Geschichte, Politik/Sozialwissenschaften, Religion/Ethik, Wirtschaft sowie fächerübergreifende Angebote. Wir sprachen mit der Wissenschaftlichen Leitung des Projektverbunds, Prof. Dr. Jörn Brüggemann von der Universität Bamberg, über die Zieldimensionen der Fortbildungen und wie sich Unterrichtsfächer durch die Digitalisierung verändern.
Interview mit Prof. Dr. Jörn Brüggemann. Redaktion: Petra Schraml, DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
In Ihrem Projekttitel bezeichnen Sie digitale Souveränität als „Ziel wegweisender Lehrer:innenbildung in der digitalen Welt“. Was verstehen Sie unter digitaler Souveränität?
Jörn Brüggemann: In unserem Projektverbund verstehen wir unter digitaler Souveränität als Zieldimension innovativer Lehrkräftebildung die Fähigkeit von Lehrkräften und Schüler:innen fachlich und digital souverän in unserer digital geprägten Welt zu agieren. Aus fachdidaktischer Sicht umfasst digitale Souveränität sechs Dimensionen. Diese bezeichnen erstens die Fähigkeit, Schüler:innen bei der Entwicklung digitaler Kompetenzen im Rahmen fachlicher Fragestellungen zu unterstützen. Der Aufbau digitaler Kompetenzen sollte nicht aus dem Fachunterricht ausgegliedert werden, wie das beispielsweise geschieht, wenn Schüler:innen einen sogenannten Medienführerschein machen, ohne dass der Erwerb und die Anwendung der dort vermittelten digitalen Kompetenzen in den Fachunterricht eingebunden sind und dort als funktional erlebt werden.
Zweitens umfasst digitale Souveränität die Fähigkeit, Schüler:innen die Entwicklung fachlicher Kompetenzen durch digitale Lehr-Lern-Arrangements zu ermöglichen. Dieser Aspekt hebt darauf ab, dass viele Lehrkräfte den Eindruck haben, dass mit der Digitalisierung viele Zusatzaufgaben auf sie zukämen, die sie schon zeitlich nicht mehr in ihrem Fachunterricht unterbringen können. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, möchten wir die Erfahrung ermöglichen, dass man die Kenntnisse und Kompetenzen, die Lehrkräfte sowieso gemäß den Bildungsstandards und Kernlehrplänen vermitteln sollen, auch – und manchmal vielleicht sogar besser – im Rahmen digitaler Lehr-Lern-Arrangements vermitteln kann. Wenn Lehrkräfte beispielsweise Schreibkonferenzen durchführen wollen, lassen sich diese innerhalb weniger Sekunden in digitalen Chaträumen organisieren. Im analogen Raum müssen stattdessen Tische umgestellt und Stühle gerückt werden. Die digitale Option spart Zeit. Außerdem kann man die Ergebnisse der Schreibkonferenzen leichter sichern, um damit in Folgestunden weiterzuarbeiten.
Welches sind die anderen Dimensionen?
Jörn Brüggemann: Die dritte Dimension betrifft die Fähigkeit, Schüler:innen beim Aufbau fachspezifischer digitaler Kompetenzen zu unterstützen. Immerhin verändern sich im Zuge der digitalen Transformation unserer Gesellschaft auch die Schulfächer – und diese Veränderungen bergen neue Anforderungen. Ganz wichtig ist uns in unserem Projektverbund, dass der fachliche und digitale Kompetenzerwerb, so wie ich ihn gerade mit Blick auf drei Dimensionen angedeutet habe, Schüler:innen immer auch Räume zur Selbstreflexion eröffnet. Schüler:innen sollen sich bewusst werden können, inwiefern die digitale Transformation sich auf ihre Identität in personaler und sozialer Hinsicht auswirkt und welche Chancen und Risiken die digitale Transformation auch für sie persönlich mit sich bringt.
In dieser Hinsicht umfasst unser Modell digitaler Souveränität neben den drei eben genannten Kompetenzdimensionen jeweils ein personales Pendant. Dieser Aspekt ist uns so wichtig, weil wir aus großen empirischen Studien aus der Deutschdidaktik wissen, dass Angebote zur personalen Aktivierung, die auf die Entwicklung einer selbstreflexiven Haltung gegenüber sich und der eigenen Beziehung zum Unterrichtsgegenstand abzielen, als besonders wichtig, interessant und persönlich bedeutsam erlebt werden und einen Indikator für die Qualität im Fachunterricht darstellen können.

„Schüler:innen sollen sich bewusst werden können, inwiefern die digitale Transformation sich auf ihre Identität in personaler und sozialer Hinsicht auswirkt und welche Chancen und Risiken die digitale Transformation auch für sie persönlich mit sich bringt.“
Können Sie das anhand einer Ihrer Fortbildungen verdeutlichen?
Jörn Brüggemann: Nehmen wir zur Veranschaulichung eine Fortbildung für das Fach Deutsch, die Lehrkräften verdeutlichen soll, welches fachdidaktische Potenzial eine KI wie ChatGPT bietet, um literarische Interpretationsfähigkeiten und ästhetisches Erleben zu aktivieren und zu erweitern. Indem wir mit Lehrkräften erproben und erarbeiten, durch welche Aufgaben ihre Schüler:innen lernen können, wie verlässlich bzw. unzuverlässig Aussagen von ChatGPT über literarische Texte sein können, erweitern sie Fähigkeiten in der ersten Dimension. Ein weiteres Beispiel für diese Dimension bzw. für den Aufbau von digitalen Kompetenzen im Rahmen fachlicher Fragestellungen wäre, Lehrkräften Wissen darüber zu vermitteln, wie man ChatGPT dazu bringen kann, zielgerichtete Interpretationsansätze in einem vorab definierten Ausgabeformat zu präsentieren. Das ist nicht so einfach, wie man vielleicht denkt! Bei beiden Beispielen geht es um digitalitätsbezogenes Wissen über ChatGPT, das für die Nutzung von ChatGPT im Umgang mit Literatur wichtig ist. Die zweite Dimension betrifft die Vermittlung von fachlichen, in diesem Beispiel auf den Literaturunterricht bezogenen Kompetenzen mit Hilfe von ChatGPT. Wir wissen, dass metakognitive Lernprozesse wichtig sind für die Förderung von Interpretationskompetenz. In unserer Fortbildung können Lehrkräfte nun lernen, mit Hilfe von ChatGPT metakognitive Lernprozesse zur Förderung von Interpretationskompetenz anzuregen.
Die dritte Dimension betrifft den Erwerb neuer fachspezifischer digitaler Kompetenzen. In besagter Fortbildung können Lehrkräfte ihre digitale Souveränität in dieser Hinsicht erweitern, indem sie in der Fortbildung lernen, ChatGPT so zu konfigurieren, dass Schüler:innen passgenaue Unterstützungsangebote für die Aktivierung unterschiedlicher Aspekte literarischer Interpretationskompetenz erhalten. Zur Erzeugung passgenauer Unterstützungsangebote beim Interpretieren literarischer Texte kann man in unserer Fortbildung einerseits das Erstellen von Konfigurationen lernen, andererseits das Formulieren von Prompts. Um Schüler:innen darüber hinaus beim Aufbau einer selbst- und medienreflexiven Haltung zu unterstützen, können Lehrkräfte in dieser Fortbildung z.B. lernen, wie man Schüler:innen beim Aufbau einer kritischen Haltung gegenüber den Antworten von ChatGPT, aber auch gegenüber den eigenen Erwartungen an ChatGPT unterstützen kann, um der eigenen Manipulierbarkeit entgegenzuwirken; oder wie man Schüler:innen mit Hilfe von KI-generierten Text-Bild- und Text-Ton-Vergleichen helfen kann, sich ästhetische Imaginationen und ihre Geschmackspräferenzen bewusst zu machen, aber auch ihr subjektives ästhetisches Erleben zum Ausdruck zu bringen.

„Lehrkräfte können ihre digitale Souveränität erweitern, indem sie in der Fortbildung lernen, ChatGPT so zu konfigurieren, dass Schüler:innen passgenaue Unterstützungsangebote für die Aktivierung unterschiedlicher Aspekte literarischer Interpretationskompetenz erhalten.“
Das Spektrum Ihrer Fortbildungen ist sehr groß. Welche Fortbildungen erarbeiten Sie noch?
Jörn Brüggemann: Wir haben eine Reihe von KI-Fortbildungen auch in den Sprachen entwickelt, wo Chatbots neue Möglichkeiten bieten, das Sprechen gezielter einzuüben oder wo Virtual Reality ermöglicht, authentische Einblicke in unterschiedliche Bereiche der Bildung für nachhaltige Entwicklung zu erhalten. In einer anderen Fortbildung wird gezeigt, wie KI genutzt werden kann, um Zeitzeugen des Holocaust eine Stimme zu geben und Schüler:innen mit ihnen in einen Dialog treten zu lassen. Das besondere Potenzial dieses Zugangs liegt darin, dass es jungen Menschen häufig weniger schwerfällt, mit den KI-generierten Modellen zu sprechen als mit den Überlebenden selbst.
Für das Fach Geografie gibt es eine Fortbildung, die einen fachlich und digital souveränen Umgang mit Karten ermöglicht. Das es sich dabei um ein immer schon zentrales Unterrichtsthema mit neuer Relevanz handelt, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass heute jeder Karten erstellen kann und die Grenzen zwischen Produzent:innen und User:innen verschwimmen. Deshalb sind Karten heute immer auch Ausdruck spezifischer Interessen und Machtbestrebungen – z. B. von Staaten, Politiker:innen, Unternehmen, Aktivist:innen usw.
Daran sieht man: Digitale Souveränität im Umgang mit Karten erfordert weitaus mehr als nur technisch-funktionale Anwendungskompetenzen, nämlich fachliche Kompetenzen und vor allem auch die Entwicklung einer selbst- und medienreflexiven Haltung, um der eigenen Manipulierbarkeit entgegenzuwirken. Ich könnte noch mehr Fortbildungen aufzählen. Auf unserem Portal Digitale Souveränität kann man sich umfassend über unsere Angebote informieren. Alle interessierten Schulen, Studienseminare und Lehrkräfte sind außerdem herzlich eingeladen, über unser Portal Fortbildungsangebote zu buchen.
Verfolgen Sie noch andere Zielsetzungen?
Jörn Brüggemann: Deutsche Lehrkräfte stehen der Anwendung digitaler Optionen im internationalen Vergleich sehr skeptisch gegenüber. Das zeigen viele Studien. Wir entwickeln deshalb digitale Lehr-Lern-Räume und digital-didaktische Chat-Räume, die leicht verständlich und einfach handhabbar sind und die alle Lehrkräfte, die unsere Fortbildungen besuchen, in ihrem eigenen Unterricht nutzen können. Wir wollen so die Akzeptanz erhöhen. Darüber hinaus stellen wir Lehrkräften fertige Unterrichtsbausteine mit Lern- und Testaufgaben zur Verfügung. Es wird spannend sein, zu evaluieren, wie die Lehrkräfte diese Bausteine in ihren Unterricht adaptieren und ob noch mehr Unterstützungsangebote für Lehrkräfte, aber auch für Schüler:innen nötig sein werden.

„Wir entwickeln digitale Lehr-Lern-Räume und digital-didaktische Chat-Räume, die leicht verständlich und einfach handhabbar sind und die alle Lehrkräfte, die unsere Fortbildungen besuchen, in ihrem eigenen Unterricht nutzen können.“
Wie verändert der Einsatz digitaler Medien den Fachunterricht?
Jörn Brüggemann: Das müssen wir genauer untersuchen. Bislang kann man – trotz verschiedener Initiativen der Vergangenheit – nicht davon sprechen, dass in den Schulen unseres Landes ein digital gestützter Fachunterricht die Regel ist. Diesem Befund versucht das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit der Einrichtung von Kompetenzzentren entgegenzuwirken, für die wir die Fortbildungen entwickeln. Das Besondere an dieser Initiative ist, dass die Fortbildungen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit untersucht werden sollen. Wir brauchen endlich empirisch gestützte Hinweise darauf, ob Fortbildungen angenommen werden und Wirkung zeigen. Um diese Hinweise zu erhalten, werden die von uns entwickelten Fortbildungen evaluiert – in manchen Teilprojekten übrigens nicht nur durch Lehrkräfte, sondern auch Schüler:innen –, sodass wir hoffentlich bald besser wissen, ob und wie unsere Fortbildungsangebote den Fachunterricht verändern. Was wir aber jetzt schon sagen können: Wer unsere Fortbildungen besucht und deren Inhalte für den Fachunterricht adaptiert, der bringt seinen Unterricht mehr auf die Höhe der Zeit. Denn die ist geprägt durch die digitale Transformation, die sich auch auf die Schulfächer, ihre Gegenstände, Methoden und Praktiken auswirkt.
Arbeiten Sie bei der Entwicklung der Fortbildungen mit der Bildungspraxis und -verwaltung zusammen?
Jörn Brüggemann: Wir arbeiten bei der Entwicklung und Erprobung mit erfahrenen Lehrkräften und Fachleiter:innen zusammen. Mit Fortbildungseinrichtungen kooperieren wir vor allem bei der Dissemination. Gerade auch Fachleiter:innen in den Studienseminaren sind wichtige Multiplikator:innen für das Referendariat. Diese Institutionen und Personen mit in den Blick zu nehmen, ist wichtig für den Erfolg von lernen:digital. Da es nicht einfach ist, in der kurzen Projektlaufzeit alle Ebenen zu erreichen und einzubeziehen, wäre es umso wichtiger, die Projektlaufzeit von lernen:digital zu verlängern, um die Arbeitsstrukturen, die jetzt aufgebaut werden, auszubauen und die Nachhaltigkeit der Angebote zu sichern.
Wie werden die Fortbildungen von den Lehrkräften angenommen?
Jörn Brüggemann: Bisher mit großem Interesse. Das finden wir sehr ermutigend. Man muss aber vermutlich einräumen, dass bislang vor allem die digital Aufgeschlossenen teilgenommen haben. Es wird eine Herausforderung der nächsten Jahre sein, diejenigen zu erreichen, die der Digitalisierung skeptisch gegenüberstehen und sie für ein vorübergehendes Phänomen halten. Ein Weg, den einige unserer Teilprojekte gehen, ist der Versuch, schulinterne Fortbildungstage auszurichten. Das ist eine gute Möglichkeit, ein gesamtes Geografie- oder Deutsch-Kollegium zu erreichen.

„Ein Weg, den einige unserer Teilprojekte gehen, ist der Versuch, schulinterne Fortbildungstage auszurichten. Das ist eine gute Möglichkeit, ein gesamtes Geografie- oder Deutsch-Kollegium zu erreichen.“
Ihr Projektverbund ist sehr groß. Wie kooperieren 13 Universitäten aus sieben Bundesländern miteinander?
Jörn Brüggemann: In großen Teilen digital! Bei uns kooperieren drei sogenannte EFTs – Entwicklungs-, Forschungs- und Transfergruppen – mit je eigenen Zielen und Aufgaben hochschul- und bundeslandübergreifend. Das lässt sich digital sehr gut organisieren. In der EFT A erarbeiten vor allem Fachdidaktiker:innen zusammen mit Lehrkräften und Fachseminarleiter:innen möglichst passgenaue und bedarfsorientierte Fortbildungen. Aufgabe der EFT B ist die Bereitstellung eines technologisch-konzeptionellen Support-Systems und die Beratung, wie sich Fortbildungen möglichst gut auf einer bestimmten technischen Basis implementieren lassen. EFT C sorgt für die Abstimmung und Evaluation von Qualitätsstandards und für die Bereitstellung und Ausdifferenzierung von Evaluationsinstrumenten. Wir untersuchen auch, wie sich die Ausprägung von digitaler Souveränität im Fächervergleich darstellt. Es wäre durchaus denkbar, dass es auch von der spezifischen Fachkultur abhängt, wie offen Lehrkräfte einem digital gestützten Unterricht gegenüberstehen.
Prof. Dr. Jörn Brüggemann

Jörn Brüggemann ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Kompetenz- und Unterrichtsforschung, der fachdidaktischen Lehrkräfteforschung und der Geschichte des Literaturunterrichts. Seit 2023 ist er Wissenschaftlicher Leiter des lernen:digital Projektverbunds „Digitale Souveränität als Ziel wegweisender Lehrer:innenbildung für Sprachen, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften in der digitalen Welt“ (DiSo-SGW) und Standortkoordinator des Projektverbunds „Digital-ästhetische Souveränität von Lehrkräften als Basis kultureller, künstlerischer, musikalischer, poetischer und sportlicher Bildung in der digitalen Welt“ (DiäS). Zugleich ist er Sprecher des lernen:digital Kompetenzzentrums Sprachen/Gesellschaft/Wirtschaft und in dieser Funktion Mitglied des Begleitgremiums des Kompetenzverbund lernen:digital.