SchuDiDe: „Uns verbindet der Anspruch, Demokratieförderung und Digitalisierung in einer Art Laboratorium in verschiedenen Fortbildungsformaten zu gestalten.“
Der Projektverbund „SchuDiDe: Schulentwicklung: Digital – Demokratisch“ stellt in einer Art Baukasten-System in enger Kooperation mit den beteiligten Schulen exemplarische Fortbildungsformate bereit, die die Aufmerksamkeit auf den systemischen Zusammenhang von Digitalisierung und Demokratieförderung in der Schulentwicklung richten.
Interview mit Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz. Redaktion: Michaela Achenbach, DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
Schulentwicklung – Digitalisierung – Demokratieförderung – diese drei Themen bilden den Rahmen Ihrer Arbeit im Projektverbund SchuDiDe. Warum haben Sie diesen Zusammenhang in den Fokus gerückt?
Ralf Koerrenz: Digitalisierung ist ein Wandlungsprozess, der das Verhältnis von Schule und Gesellschaft grundsätzlich verändert. Das Lernen von Kindern und Jugendlichen wird durch Smartphones, Social Media und KI als außerschulischen Erziehungsmächten mitgesteuert. Diese stellen das Handeln in der Schule und durch die Schule in einer neuen Qualität auf den Prüfstand.
Die Veränderung von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspannen durch Tempo und Reizintensität von digitalen Medien und die Entgrenzung unseres hirnphysiologischen Belohnungssystems (z. B. mit Blick auf das Aushalten von Unlust, auf den Belohnungsaufschub in komplexeren und langwierigeren Lernprozessen etc.) ist ein markanter Punkt.
Ein anderer bezieht sich auf die digitalen Lebenswelten von Schüler:innen, die durch die Omnipräsenz von Smartphones und darauf genutzten Apps als wirkmächtige Normalität Einzug in den schulischen Alltag gehalten haben.
Dies sind nur zwei Hintergründe, die soziale Phänomene wie den Umgang mit Fake News oder die Kommunikation in virtuellen Räumen als explizit schulische Herausforderungen markieren. Denn: Wenn wir Schule als einen sozialen Raum verstehen, der auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorbereiten soll und somit mittelbar auf diese Gesellschaft wirkt, bekommt die Wirkmacht von digitalbasierten Mit-„Erziehern“ eine besondere Brisanz. Die digitale Schulentwicklung nimmt deswegen auch die Förderung der pluralitätsoffenen und zugleich wertebasierten Persönlichkeitsentwicklung in einer vielfältigen, demokratischen Gesellschaft in den Blick.
Und was genau ist das Ziel ihres Vorhabens?
Ralf Koerrenz: Die Gestaltung von Schule als Institution auf der Makroebene, von schulischer Alltagspraxis aller Beteiligten auf der Mesoebene und des Unterrichts auf der Mikroebene verlangt im Zuge der Digitalisierung mit Blick auf ein demokratisches Zusammenleben nach einer Neujustierung. Hierzu wollen wir in einer Art Baukasten-System in enger Kooperation mit den beteiligten Schulen exemplarische Fortbildungsformate bereitstellen, die die Aufmerksamkeit auf den systemischen Zusammenhang von Digitalisierung und Demokratieförderung in der Schulentwicklung richten.
Ein solches Anliegen führt auf der Makroebene dazu, dass rechtliche und ethische Rahmenbedingungen der digitalen Schulentwicklung aufbereitet werden. Weiterhin soll die Digitalisierung auf der Mesoebene – etwa mit Blick auf partizipative Entscheidungsstrukturen oder interkulturelle Kooperationen – so fruchtbar gemacht werden, dass Schulen Demokratie durch Formate und Angebote erlebbar machen können und im besten Fall selbst Erfahrungsräume der Demokratie werden. Auf der Mikroebene geht es darum, digitale Entwicklungen in die Unterrichts- und Prüfungskonzeption partizipativ einzubeziehen.
Alles in allem wird Demokratieförderung in der Schule durch die Digitalisierung noch stärker als zuvor als eine Werkstatt sichtbar, die – vielleicht auch mithilfe unserer Angebote – von der jeweiligen Einzelschule gestaltet werden muss.
„Alles in allem wird Demokratieförderung in der Schule durch die Digitalisierung noch stärker als zuvor als eine Werkstatt sichtbar, die von der jeweiligen Einzelschule gestaltet werden muss.“
Wo liegt Ihrer Meinung nach der besondere Nutzen einer digitalen Schulentwicklung in Sachen Demokratieförderung?
Ralf Koerrenz: Bereits im frühen Kindesalter wird unsere Alltagskultur oftmals durch die Normalität digitaler Mediennutzung geformt. Demokratieförderung in der und durch die Schule wird dadurch in einer neuen Weise herausgefordert. Ein Bewusstsein dafür, dass unsere Vorstellungen eines pluralitätsoffenen, zugleich aber im Sinne des Grundgesetzes wertebasierten Miteinanders durch die Form und Inhalte digitaler Medien hinterfragt und teilweise angegriffen werden, ist ein erster Realitätsgewinn, wenn wir Schule heute nüchtern betrachten wollen.
Fake News, fundamentalistische Weltdeutungsmuster und eine neue Qualität der Selbstkonstruktion über Konsum und zahlreiche Identifizierungsangebote sind nur drei Aspekte, die ganz wesentlich digital in den Alltag der Schüler:innen eingewoben sind.
Den Umgang mit der Realität von Digitalisierung über eine Optimierung von technischen Anwendungen und der Entwicklung von neuen Kreativitätsformaten in Lehr-Lern-Prozessen – um nur zwei Aspekte zu nennen – hinaus um die gesellschaftspolitische Dimension zu erweitern, macht digitale Schulentwicklung realistischer und alltagsnäher.
Der schulische Alltag wirkt für Lernende und Lehrende mit Blick auf die Steuerungsprozesse von und Einflussfaktoren auf Lernen oft undurchsichtig und konfus. Diese Undurchsichtigkeit produziert eine eigene Form von Stress und führt zu einer zusätzlichen Überforderung – beispielsweise mit Blick auf die Gestaltungsaufgaben politischer Bildung. Insofern kann ein Bewusstsein für die digitalen Mit-„Erzieher“ gerade mit Blick auf demokratisches Lernen für etwas Aufklärung über den Alltag sorgen.
Und wie verhalten sich Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Perspektive zueinander?
Ralf Koerrenz: Schule kann nicht direkt und unmittelbar die Gesellschaft prägen, ist durch ihre Verantwortung für das Lernen von Heranwachsenden in den verschiedenen Ausdrucksformen schulischen Handelns – vom Verhalten der Lehrenden über die Lerninhalte bis hin zu sozialräumlichen und materialräumlichen Arrangements – jedoch keineswegs bedeutungslos.
Bestenfalls kann digitale Schulentwicklung durch die Anerkennung dieser Situation den Raum für schulinterne Aushandlungsprozesse zu Maßnahmen der Demokratieförderung im Horizont der Digitalität schaffen. Unsere Materialien und Fortbildungsangebote sollen hierfür Impulse bereitstellen.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen den fünf beteiligten Universitäten im Projektverbund?
Ralf Koerrenz: Unser Netzwerk hat ein gemeinsames Anliegen, aber eine zugleich koordinierte und heterogene Binnenstruktur. Uns verbindet der Anspruch, Demokratieförderung und Digitalisierung in einer Art Laboratorium in verschiedenen Fortbildungsformaten zu gestalten. Darüber tauschen wir uns regelmäßig präsentisch und digital aus. Für den Herbst 2024 ist eine Klausurtagung in einer der Partnerschulen angedacht. In der Binnenstruktur ist unser Verbund in fünf Tandems organisiert, die einen speziellen thematischen Austausch pflegen. Den thematischen Aufbau und die Struktur des Verbundprojektes kann man am besten in einer grafischen Darstellung nachvollziehen.
Kooperieren Sie auch mit anderen Projektverbünden und Beteiligten im Kompetenzzentrum Schulentwicklung?
Ralf Koerrenz: Die Kooperation mit anderen Akteuren aus dem Gesamtprojekt Digitale Schulentwicklung ist bei uns über Einzelaktivitäten der Teilprojekte organisiert. Innerhalb unseres Kompetenzzentrums hat es unter anderem Kooperationen mit einem anderen Verbund bei einer Zeitschriften-Publikation gegeben. Darüber hinaus gibt es Vernetzungen beispielsweise in das Kompetenzzentrum Musik/Kunst/Sport mit Blick auf das Thema „Künstliche Intelligenz“. Und durch die große Tagung „Digitale Transformation für Schule und Lehrkräftebildung gestalten“ in Potsdam werden sicher noch weitere Kooperationen entstehen.
Was werden die Lehrkräfte in den Fortbildungen lernen, die Sie zurzeit entwickeln?
Ralf Koerrenz: Hier möchte ich zwei Ebenen unterscheiden.
Zum einen geht es uns – wie auch anderen Verbünden – darum, digitale Schulentwicklung als eine gesellschaftliche Herausforderung zu verstehen. Bei allem Nutzen der Einführung und Optimierung von Digitalisierung als ein Set von Techniken sind Lehrkräfte mit den Folgeerscheinungen der alle Lebensbereiche beeinflussenden Digitalnutzung der einzelnen Schüler:innen konfrontiert. Die Lehrkräfte können unseren Angeboten – quasi als eine Art Leitfaden – eine Wertschätzung der sozialen Dimension digitaler Schulentwicklung entnehmen: als Impuls für die immer nur konkret vor Ort zu definierenden Herausforderungen und für die entsprechenden Strategien und Haltungen zu deren Bewältigung.
Zum anderen geht es uns um ganz konkrete Angebote, diese Gestaltungsaufgaben vor Ort zu unterstützen, zu inspirieren und zu motivieren. Zu diesen Angeboten gehören rechtliche und ethische Orientierungen z. B. für Schulkonferenzen, aber auch Fortbildungsformate zur Radikalisierungsprävention. Es geht bei uns außerdem um Fortbildungen zu globalen Netzwerken und zu digitalen Projekttagen. Weitere Angebote beziehen sich auf neue Formen der Partizipation von Schüler:innen an der Schulkultur, auf kollegiale Unterrichtsentwicklung oder auch auf Auswirkungen und Potenziale textgenerierender KI in der Schule. Unsere Angebote sind vielfältig, wie auch demokratisches Lernen nur im Plural, in einer orientierenden Vielfalt gedacht werden kann. Verbunden sind alle Angebote in der Überzeugung, dass Schulentwicklung auch die gesellschaftliche Dimension der Digitalisierung mit in den Blick nehmen sollte – weil sie den Alltag aller an der Schule Beteiligten mitbestimmt.
„Uns geht es um ganz konkrete Angebote, diese Gestaltungsaufgaben vor Ort zu unterstützen, zu inspirieren und zu motivieren. Zu diesen Angeboten gehören rechtliche und ethische Orientierungen z. B. für Schulkonferenzen, aber auch Fortbildungsformate zur Radikalisierungsprävention.“
In welcher Phase – Entwicklung, Erprobung oder Evaluation der Fortbildungen – befinden Sie sich zurzeit?
Ralf Koerrenz: Das ist von Teilprojekt zu Teilprojekt unterschiedlich.
Diejenigen Projekte, die in Abstimmung mit den Partnerschulen Projekte für die Praxis entwickeln bzw. entwickelt haben, befinden sich jetzt in oder kurz vor den entsprechenden Erprobungsphasen.
Einige Projekte folgen dem Ansatz, die Weiterbildung mit Teams aus einem Schulnetzwerk „von unten“ zu entwickeln. Diese haben jetzt die Vorbereitungen abgeschlossen, um im nächsten Schuljahr die Fortbildungen kooperativ zu entwickeln. Ein solch alltagspraxisbasiertes Vorgehen folgt anderen Rhythmen.
Wie werden ihre Lern- und Fortbildungsformate in der Praxis erprobt?
Ralf Koerrenz: Auch das ist von Teilprojekt zu Teilprojekt unterschiedlich. Je nach Prozesskonzeption werden schon jetzt bestimmte Formate im Austausch mit den beteiligten Schulen getestet.
Andere Angebote zeichnen sich dadurch aus, dass sie erst im Laufe des kommenden Schuljahres mit Akteuren aus der Praxis erarbeitet werden – als „Best-Practice“-Modelle für andere Schulen.
Wie gelingt es Ihnen, Ihre Produkte nachhaltig und für eine größere Zielgruppe zu sichern?
Ralf Koerrenz: Wir werden den Transfer der digitalen Materialien und Maßnahmen durch Bereitstellung der Produkte auf zentralen digitalen Plattformen sowie OA- und OER-Veröffentlichungen für eine größere Zielgruppe zu sichern versuchen. Was davon wie genutzt wird, liegt natürlich im Wesentlichen in der Entscheidungshoheit der Bundesländer. Dabei soll die Implementierung durch Kooperation mit Partnern in allen Phasen der Lehrkräftebildung sowie Kultus- und Landesministerien unterstützt werden.
Ergänzend soll die Vorstellung der Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in der wissenschaftlichen Community nicht nur die (kritische) Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der digitalen Maßnahmen und Materialien ermöglichen, sondern auch weitere Verbreitungs- und Vernetzungsmöglichkeiten eröffnen.
„Wir werden den Transfer der digitalen Materialien und Maßnahmen durch Bereitstellung der Produkte auf zentralen digitalen Plattformen sowie OA- und OER-Veröffentlichungen für eine größere Zielgruppe zu sichern versuchen.“
Im Verbund SchuDiDe konzipieren Sie ein länderübergreifendes Forum. Welcher Impuls soll davon ausgehen?
Ralf Koerrenz: Ausgehend von den am Verbund beteiligten Personen aus fünf Bundesländern werden wir das Forum im Laufe des kommenden Schuljahrs zunächst digital konzipieren. Mit dem Forum soll das Thema „Digitalisierung – Schule – Demokratie“ sichtbar gemacht werden. Zu unseren nächsten Aufgaben in diesem Bereich wird es gehören, Möglichkeiten der Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren auszuloten.
Parallel hierzu werden wir von Jena ausgehend das Thema mit der Organisation von Fachtagungen zu unterstützen versuchen. Bei alledem werden wir immer zu prüfen haben, wie unsere Vorstellungen zu „Digitalisierung – Schule – Demokratie“ mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten können. Denn die Entwicklungen unseres demokratischen Zusammenlebens sind notwendig dynamisch und in einer spezifischen Weise offen – das gehört nun einmal zur Eigenheit von Demokratie untrennbar hinzu, auch mit Blick auf die Auseinandersetzung mit bestimmten Gefährdungen.
Klar ist bei alledem jedoch, dass Digitalisierung einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung von Demokratie hat – und Schule als eine gesellschaftlich definierte Institution davon (bewusst oder unbewusst) stark geprägt ist. Zu einem kritisch-konstruktiven Umgang mit dieser Situation möchte unser Verbund auf den schon genannten Ebenen Bausteine in Form von Fortbildungsangeboten beisteuern.
Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz
Ralf Koerrenz ist Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und arbeitet dort an dem von ihm mitgegründeten Institut für Bildung und Kultur. Mit seinem Team hat er die allgemeinpädagogische Konzeption der Kritisch-Operativen Pädagogik (KOP) entwickelt, die über ein Verständnis pädagogischen Handelns (Lernsteuerung und Wahrnehmungsinszenierung) sowie einem Verständnis von Kritik als Unterscheidung (Analytik) und Entscheidung (Pragmatik) auch einen neuen Rahmen für empirische Forschungsdesigns bereithält.