Silke Müller: „Dieses Projekt könnte ein Gamechanger sein“
Der Kompetenzverbund lernen:digital entwickelt evidenzbasierte Fortbildungen für Lehrkräfte. Warum das Projekt zugleich das Bildungssystem nachhaltig verändern könnte, erklären Katharina Scheiter, Wissenschaftliche Leitung der lernen:digital Transferstelle, und Silke Müller, Schulleiterin und Mitglied im Begleitgremium, im Interview.
Silke Müller, Schulleiterin und Mitglied im Begleitgremiums des Kompetenzverbund lernen:digital, setzt große Hoffnungen in das Verbundvorhaben. Es könne das deutsche Bildungssystem aus der Ruinenverwaltung führen, hofft sie. Auch Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam und Leiterin der lernen:digital Transferstelle, hat große Ziele: Zwar werde man innerhalb der Projektlaufzeit nicht das Bildungssystem revolutionieren, doch es könnte eine Blaupause für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Bildungsverwaltung und Schulpraxis, Bund und Ländern entstehen. Im Interview erklären beide, warum sie diese großen Hoffnungen hegen, welche Hürden es zu überwinden gilt, wie der Kompetenzverbund – einfach erklärt – aufgebaut ist und welche Auswirkungen es auch auf die Lehrkräfteausbildung hat.
Zum Start des Kompetenzverbund lernen:digital haben Sie, Frau Müller, das deutsche Bildungssystem als Ruinenverwaltung bezeichnet und erklärt, lernen:digital habe das Potenzial, dies zu ändern. Bei der Ruinenverwaltung wird kaum jemand aus dem Bildungssystem widersprechen, aber warum soll ein Projekt zu digital gestütztem Lernen und Unterrichten ein „Gamechanger“ sein?
Silke Müller: Dafür sprechen mehrere Punkte. Zum einen habe ich nicht nur von der charmanten Ruinenverwaltung gesprochen, sondern auch von der heiligen Kuh des Föderalismus, die wir wahnsinnig gerne vor uns hertreiben und an die wir nicht rangehen: Es gab schon viele tolle Einzelprojekte. Aber was gut in Niedersachsen war, kam in Bayern nicht an. Bei diesem Projekt wird nun erstmals bundesweit zusammengearbeitet. Hinzu kommt, dass es bei lernen:digital erstmals eine Vernetzung von Wissenschaft und Praxis gibt. Bisher wurde die Kompetenzvermittlung, wie Lehrkräfte durch digitale Medien das Lehren und Lernen verbessern können, nur sehr stiefmütterlich behandelt. Nun werden endlich von der Wissenschaft Strategien entwickelt, welche digitalen Kompetenzen Lehrkräfte in verschiedenen Fächern benötigen. Die Lehrkräfte bekommen etwas, das Hand und Fuß hat, wo sie sich drauf verlassen können, dass es sie in ihrer Arbeit unterstützt
Katharina Scheiter: Das ist ein weiterer entscheidender Punkt: Das Thema Digitalität wird bei lernen:digital anders kommuniziert. Es geht nicht um ein weiteres Add-on, mit dem sich Lehrkräfte auseinandersetzen müssen. Sondern im Mittelpunkt stehen die Fragen, wie guter Unterricht gestaltet wird, welche Ziele wir im Unterricht haben, welche Schwierigkeiten es gibt, diese Ziele zu erreichen und wie digitale Medien dabei helfen können, diese Schwierigkeiten zu beseitigen.
Silke Müller: Genau darum ist es bisher nämlich nicht gegangen. Plötzlich hieß es: „Technik muss in die Schule“. Aber der Ansatz war nicht: Wie kann uns Technik bei den komplexen Herausforderungen im Bildungssystem helfen? Das klingt sehr pathetisch, aber schlussendlich geht es bei der Bildung darum, unser eigenes friedvolles und demokratisches Leben zu sichern. Dazu müssen wir eine neue Generation fit machen für die Herausforderungen der Zukunft, die schlichtweg nicht mehr mit dem zu vergleichen sind, was vor zehn Jahren war. Die Kompetenzen, die unsere Kinder dafür bräuchten, geben wir ihnen aktuell jedoch nicht mit. Aber mit diesem Projekt können wir den Anstoß geben, Bildung zu revolutionieren oder zumindest dahingehend zu verbessern.
Schaut man sich den Aufbau und die Konzeption von lernen:digital an, lässt sich diese Strahlkraft noch nicht erkennen. Da gibt es Projektverbünde, Kompetenzzentren, Transferstelle, Landesinstitute – man behält kaum den Überblick und das schreckt eher ab. Daher die Bitte: Erklären Sie das Projekt einmal so einfach wie möglich.
Silke Müller: In Vorbereitung auf das Interview habe ich dazu mal ChatGPT genutzt und der KI gesagt: „Explain me as if I´m five lernen:digital“. Heraus kam – gekürzt – Folgendes: „Der Kompetenzverbund lernen:digital ist wie eine Gruppe von klugen Menschen, die zusammenarbeiten, um Schulen und Lehrerinnen und Lehrern dabei zu helfen, besser mit digitalen Dingen umzugehen. Die klugen Leute forschen und entwickeln Ideen in verschiedenen Bereichen wie Mathe, Sprache, Musik und Schulentwicklung. In Projekten erstellen sie Schulungsunterlagen, Materialien und Konzepte, wie man den Unterricht besser machen kann, wenn man digitale Technologien verwendet. Eine besondere Stelle, die Transferstelle, arbeitet daran, die Ideen noch besser zu machen, und hilft dabei, sie in ganz Deutschland zu verbreiten.”
Katharina Scheiter: Ich würde das um Folgendes ergänzen: Wir müssen alle lernen, mit digitalen Medien zu arbeiten. Dabei möchte lernen: digital die Lehrkräfte unterstützen, damit sie mit digitalen Medien besser lehren können. Damit wir das für alle verschiedenen Fächer gewährleisten können, brauchen wir fachliche Kompetenz. Denn natürlich setzt man digitale Medien im Chemieunterricht ganz anders ein als im Fach Musik oder Geschichte. Deswegen haben wir eine Vielzahl von verschiedenen Projekten, die diesen fachlichen Bezug herstellen und die in drei Kompetenzzentren zusammengefasst sind. Wenn wir die Lehrkräfte fit machen, setzt das aber auch eine Änderung der Organisation Schule voraus. Das ist die Aufgabe des vierten Kompetenzzentrums. Und die Transferstelle schließlich soll dafür Sorge tragen, dass etwas, was in einem Projektverbund in Niedersachsen entwickelt wird, auch in die 15 anderen Bundesländer gelangt.
Die Idee ist dabei aber nicht, dass jedes Einzelprojekt für alle 800.000 Lehrkräfte in Deutschland angeboten wird, sondern dass wir eine Änderung auf der systemischen Ebene hinbekommen: Die Erkenntnisse aus den Projekten sollen in den Landesinstituten verankert und von deren Fort- und Weiterbildenden aufgegriffen und an die jeweiligen Fachlehrkräfte weitergegeben werden.
Wenn also ein Projektverbund aus dem Kompetenzzentrum MINT eine Fortbildung für Physiklehrkräfte entwickelt hat, wie geht es dann weiter?
Katharina Scheiter: Da muss man einen Schritt vorher beginnen: Die klugen Leute, wie ChatGPT sie genannt hat, setzen sich schon bei der Entwicklung der Fortbildung mit Vertreter:innen aus der Praxis zusammen, damit auch etwas entwickelt wird, das zur Unterrichtsrealität passt und das wirklich nützlich ist. Im nächsten Schritt wird das Ganze dokumentiert und aufbereitet und dazu gehen wir relativ einmalig vor: Normalerweise ist es gerade bei mehreren Projektverbünden so, dass sie eine eigene Plattform entwickeln, auf der die Inhalte eingestellt werden. Wir haben uns von vornherein dafür entschieden, die vorhandenen Transferwege zu nutzen. Das heißt, wir arbeiten mit den Landesinstituten zusammen. Dort gibt es eine digitale Plattform, auf die alle Landesinstitute Zugriff haben, und dort wird alles aus unseren Projekten eingestellt und somit allen Ländern zugänglich gemacht. Das heißt, wir schaffen keine Parallelstruktur, die wieder zusammenfällt, wenn die Projektförderung endet, sondern wir gehen in das System rein.
„Im Mittelpunkt stehen die Fragen, wie guter Unterricht gestaltet wird, welche Ziele wir im Unterricht haben, welche Schwierigkeiten es gibt, diese Ziele zu erreichen und wie digitale Medien dabei helfen können, diese Schwierigkeiten zu beseitigen.“
Gehören Sie, Frau Müller, auch zu diesen Vertreter:innen aus der Praxis, die darauf achten, dass die Projekte auch in der Praxis realisierbar sind?
Silke Müller: Nein, ich sehe meine Aufgabe eher in der Rolle des kritischen Freundes, der vor allem danach schaut, ob lernen:digital auch wirklich bei den Lehrkräften ankommt. Denn damit das Projekt wirksam ist und funktioniert, muss eine große Masse von Leuten aus dem Bildungssystem davon erfahren und überzeugt sein: „Das ist super, das brauchen wir“. Bis jetzt wissen aber viele Schulen noch nichts von lernen:digital und welch großen Schatz wir damit im Bildungssystem heben können. Wenn das Thema aber bei den Landesinstituten verhaftet und nicht zu den Lehrkräften heruntergebrochen wird, dann könnte das Projekt scheitern.
Um das zu verhindern, sehe ich es als Aufgabe aller Kultusministerien, dass sie alle Schulleitungen informieren und sie auffordern, diese Initiative den Lehrkräften bekannt zu machen. Bisher habe ich aber noch von keinem solchen Aufruf gehört.
Sind wir damit bei der heiligen Kuh des Föderalismus? Sprich: Sie haben Sorge, dass die Länder die Konzepte nicht von den Landesinstituten aktiv zu den Lehrkräften bringen, weil es ein Bundesprojekt ist, an dessen Planung und Finanzierung die Länder nicht beteiligt waren und sind?
Katharina Scheiter: Es gab in jedem Fall eine große Anfangsskepsis gegenüber der Art und Weise, wie das Projekt aufgesetzt ist. Aber es setzt sich immer mehr die Haltung durch, dass das Projekt nun mal so gestrickt ist, wie es ist und wir versuchen nun, das Beste daraus zu machen. Kurz vor Weihnachten haben wir beispielsweise die Zusage erhalten, dass die Projektverbünde direkt auf der Plattform, die eigentlich der Kultuministerkonferenz gehört, arbeiten können. Das war ein Angebot aus den Ländern heraus, und nichts, wonach wir gefragt haben. Woran man merkt, dass sich die Stimmung ändert und der Wille da ist, dieses Projekt zu nutzen.
Silke Müller: Mit Blick auf die PISA-Ergebnisse haben wir auch keine Zeit mehr für solche Befindlichkeiten. Der Grund, warum wir Bildung betreiben, ist, Kinder und Jugendliche fit für die Herausforderungen der Zukunft zu machen. Das muss im Vordergrund stehen. Dann würde man auch sehen, dass lernen:digital ein Projekt ist, das sich wirklich bemüht, bundesweit Lehrkräfte fit zu machen, damit sie guten Unterricht in einer Kultur der Digitalität machen können. Und dann würden alle Länder sich schnell dran machen, den Weg freizumachen, und das Projekt könnte zum Gamechanger werden. Doch dieser große Ruck fehlt. Stattdessen geht es um Animositäten. Da ist jemand sauer, dass der Bund das Projekt ins Leben gerufen hat, schließlich ist das sein Hoheitsgebiet. Und obwohl jeder sieht, was für eine Katastrophe der Bildungsföderalismus damit für die Weiterentwicklung des Schulsystems darstellt, wird darüber nicht diskutiert.
Katharina Scheiter: Was wir auf jeden Fall brauchen, ist eine Diskussion, an welcher Stelle länderspezifische Betrachtungen sinnvoll sind. Die Frage, wie Mathematik in der siebten Klasse besser vermittelt werden kann, die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien und Konzepten, digitalen Angeboten – das ist in Bremen nicht anders als in Bayern. Erst die Frage der Implementierung ist etwas, das an die Gegebenheiten der Bundesländer angepasst werden muss. Das zeigt, dass wir unterscheiden sollten, an welchen Stellen Föderalismus sinnvoll und notwendig ist und an welchen Stellen länderübergreifendes Arbeiten im Vordergrund stehen muss. Und das versuchen wir mit diesem Projekt ein bisschen anzuregen.
Das klingt, als würden Sie den Föderalismus stellenweise ausschalten wollen, ohne aber die Systemdebatte zu führen.
Katharina Scheiter: Man muss sich eigentlich nur überlegen, was man in einer Projektlaufzeit von drei Jahren realistisch erreichen kann. Die Projektverbünde hatten mich beispielsweise gebeten, ein einheitliches Genehmigungsverfahren für die Durchführung von wissenschaftlichen Untersuchungen an Schulen anzuregen. Bisher gibt es nämlich 16 verschiedene Verfahren. Das habe ich in einem Gespräch mit den Ländervertreter:innen angesprochen. Aber zurück kam die einhellige Bitte, dass ich mich auf dieser Ebene nicht verkämpfen möge. Denn das sind teilweise Regelungen, die in den Landesgesetzen verankert sind. Und das zu ändern, würde enorm viel Zeit und Energie verschlingen. Wir nehmen diese Gegebenheiten deswegen jetzt so hin, versuchen aber im Gespräch mit den Ländern pragmatische Lösungen zu finden, um gemeinsam das Beste aus diesem Projekt zu machen.
„Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt und dieses Projekt könnte der erste Schritt zu einer systematischen, strukturierten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis, Bildungsverwaltung und Bildungspolitik sein, die es den Schulen ermöglicht, das Lehren mithilfe digitaler Medien zu verbessern und die Kinder und Jugendlichen fit für die Zukunft zu machen.“
Was sieht denn Ihr Zeitplan vor, wann werden voraussichtlich die ersten Konzepte fertig sein und an die Landesinstitute weitergereicht?
Katharina Scheiter: Wir gehen davon aus, dass wir im Frühsommer die ersten dokumentierten Produkte auf der Plattform haben werden. Aktuell steht bei uns in der Transferstelle daher die Frage im Mittelpunkt, die Silke Müller vorhin ansprach: Wie wir es schaffen, dass diese Produkte dann auch in die Breite gebracht werden.
Sofern dies gelingt, wird dann auch evaluiert, ob ein Konzept funktioniert und angenommen wird?
Katharina Scheiter: Wir entwickeln in der Transferstelle Instrumente für die Evaluierung, die wir zentral zur Verfügung stellen werden. Dazu gehört unter anderem ein Instrument, mit dem teilnehmende Lehrkräfte die Fortbildungsqualität beurteilen können. Und wir entwickeln ein Testverfahren, mit dem wir die digitalisierungsbezogenen Kompetenzen von Lehrkräften messen wollen. Denn das ist ja sozusagen die Zielgröße: die Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, mit digitalen Medien den Unterricht zu planen und durchzuführen. Wir können aber keine bundesweiten Evaluationsuntersuchungen machen und planen. Dazu wäre sehr viel Koordination notwendig und das ließe sich in der verbleibenden Zeit auch nicht verwirklichen.
Was ist denn das Beste, was das Projekt nach den drei Jahren nach Ihrer Vorstellung erreicht haben könnte?
Katharina Scheiter: Wir werden in den drei Jahren nicht die Welt revolutionieren. Aber mein Wunsch ist, dass wir an einzelnen Beispielen von entwickelten Fort- und Weiterbildungsangeboten eine Art Blaupause entwickeln, wie die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Bildungspraxis und Bildungsverwaltung dauerhaft gut gelingen kann. Dass wir also den Boden ebnen und Strukturen etablieren, die tragfähig sind für etwas Größeres, zu dem wir den Anstoß geben.
Silke Müller: Und da schließt sich dann der Kreis: Dann wäre es ein Gamechanger. Oder anders: Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt und dieses Projekt könnte der erste Schritt zu einer systematischen, strukturierten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis, Bildungsverwaltung und Bildungspolitik sein, die es den Schulen ermöglicht, das Lehren mithilfe digitaler Medien zu verbessern und die Kinder und Jugendlichen fit für die Zukunft zu machen.
Lautet ein weiteres Ziel, dass diese Zusammenarbeit dann auch auf die Lehrerausbildung ausgedehnt wird?
Katharina Scheiter: Durch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung ist in diesem Bereich bezüglich der Digitalisierung bereits etwas passiert. Allerdings wurde es nicht geschafft, dass das Thema digitale Bildung verpflichtender Bestandteil in der Lehrkräfteausbildung an allen Hochschulen geworden ist. Das ist ein Riesenproblem, das angegangen werden muss. Aber auch die 800.000 Lehrkräfte, die im System sind, haben einen wesentlichen Einfluss auf die Referendar:innen. „Jetzt vergiss mal alles, was du an der Uni gelernt hast. Wir erklären dir jetzt mal, wie die Praxis wirklich funktioniert“, das bekommen noch viele zu Beginn des Referendariats zu hören. Und wenn diese Praxis dann immer noch nach dem analogen Standard verläuft, kommen wir nie zu einem Unterricht in einer Kultur der Digitalität. Wenn wir es aber schaffen, die bestehenden Lehrkräfte zu einem solchen Unterricht zu befähigen, dann nehmen wir damit also auch einen positiven Einfluss auf die Ausbildung angehender Lehrkräfte.
Interview: Beate Berrischen, Agentur für Bildungsjournalismus