13. Dezember 2023

Wissenschaft für die Praxis: Der Kompetenzverbund lernen:digital stellt sich vor

Am 22. und 23. November 2023 kamen rund 450 Vertreter:innen aus Wissenschaft und Bildungspraxis zum Auftakt des Kompetenzverbund lernen:digital zusammen. In Keynotes, Podiumsdiskussionen und Dialogformaten wurden die Zielsetzungen des ambitionierten Zusammenschlusses aus über 200 Forschungs- und Entwicklungsprojekten veranschaulicht und die Herausforderungen benannt.

Dass etwas schiefläuft in der Art und Weise, wie Lehrkräfte aktuell auf die Herausforderungen ihres Berufs vorbereitet werden, merkt Micha Pallesche immer dann, wenn er mit jungen Kolleg:innen spricht. Pallesche ist Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule Karlsruhe, die schon seit vielen Jahren als leuchtendes Beispiel für zukunftsorientierten Unterricht gilt. Schulentwicklung findet in einem ko-kreativen Prozess unter Beteiligung der Schüler:innen und Eltern statt, digitale Medien werden dort inzwischen so selbstverständlich eingesetzt, dass man sich selbst bereits in einer post-digitalen Phase angekommen sieht. Leider scheint eine solch zukunftsoffene Perspektive in der Lehrkräfteausbildung im Augenblick noch nicht angekommen zu sein. „Junge Lehrer:innen sind oft diejenigen, die am traditionellsten unterrichten.“

Genau dies zu ändern, ist eines der Hauptziele des 2023 gegründeten Kompetenzverbund lernen:digital. Zur Auftaktveranstaltung am 22. und 23. November im Cafe Moskau in Berlin kamen rund 450 Vertreter:innen aus Wissenschaft und Bildungspraxis zu einem ersten großen Netzwerktreffen zusammen. Micha Pallesche war virtuell zugeschaltet, um gemeinsam mit Katharina Günther-Wünsch, amtierende KMK-Präsidentin und Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Prof. Dr. Katharina Scheiter, gemeinsam mit Prof. Dr. Dirk Richter Wissenschaftliche Leitung der lernen:digital Transferstelle, und Dr. Johanna Börsch-Supan, Abteilungsleiterin für allgemeine und berufliche Bildung im Bundesministerium für Bildung und Forschung über die Erfolg versprechenden Strategien zur Stärkung von Lehrkräften zu sprechen. Und zwar in der Breite, wie Günther-Wünsch noch einmal bekräftigte: „Ein kleines Grüppchen reicht nicht, um Standards zu setzen.“

Foto: Phil Dera

Herausfordernder Transfer

Nun gehört die Fortbildung der rund 800.000 Lehrkräfte in Deutschland zum Aufgabenbereich der 22 Landesinstitute und Qualitätsagenturen, die beim Treffen auch zahlreich vertreten waren. Deren Vertreter:innen wiesen im Rahmen der vielfältigen Vernetzungs- und Dialogformate der Kick-off-Veranstaltung auch immer wieder auf die eigene Expertise hin und wie wichtig es sei, bestehende Strukturen zu nutzen, statt neue aufzubauen. Genau das wiederum, betonte Katharina Scheiter mehrfach, sei dezidiertes Ziel des Kompetenzverbunds, der sich als breiter Zusammenschluss wissenschaftlicher Teilprojekte versteht: „Es ist nicht die Aufgabe von Universitäten, Lehrkräfte fortzubilden.“ Vielmehr wolle man gemeinsam mit den Landesinstituten daran arbeiten, evidenzbasierte Erkenntnisse aus der Wissenschaft besser als bisher in die Breite der Bildungspraxis zu tragen. „Die Landesinstitute sind diejenigen, die mit ihren Multiplikator:innen in die Praxis hineinwirken“, so Dirk Richter. „Hier ist eben das Besondere des Verbundes zu sehen: dass Wissenschaft, vertreten durch die Kompetenzzentren, mit den Landesinstituten zusammenarbeitet und neue Projekte und Konzepte in die Schulpraxis bringt.“ 

Zur Wahrheit gehöre nämlich auch: Der Transfer in die Praxis ist herausfordernd, nicht jedem Landesinstitut gelinge dies gleich gut, nicht jede:r Fortbildner:in vermag es, wissenschaftliche Erkenntnis so in Schulpraxis zu transferieren, wie es wünschenswert wäre. Eigentlich wolle man in den Fachdidaktiken, in der Schulpädagogik ja Personen mit Praxiserfahrung haben, so Scheiter. „Es gibt hier unheimlich wenig systematisch zusammengetragene Erkenntnisse. Wie qualifiziert sind diese Fortbildner:innen überhaupt in der Breite? Handelt es sich um Menschen mit einer Zusatzqualifikation in der Erwachsenenbildung? Oder habe man es mit Lehrkräften zu tun, die ihre pädagogischen Kompetenzen aus dem Schulunterricht beziehen und sich ein wenig Erwachsenenbildung angelesen haben?“ 

Graphic Recording: Nadine Roßa

Enge Zusammenarbeit mit den Landesinstituten

An diesem Punkt soll der Kompetenzverbund lernen:digital ins Spiel kommen. Mithilfe eines beeindruckenden Netzwerks von über 200 Forschungs- und Entwicklungsprojekten aus ganz Deutschland, gebündelt in 24 Projektverbünden, die sich zu vier thematisch unterschiedlich ausgerichteten Kompetenzzentren zusammengeschlossen haben, und koordiniert von einer Transferstelle, will man optimale Bedingungen dafür schaffen, dass der Transfer von der Wissenschaft in die Praxis tatsächlich gelingt. Dass hier noch Verbesserungspotenzial besteht, betonte Katharina Scheiter in ihrer Keynote zur Veranstaltung: „Wir haben einen großen Klärungsbedarf in und zwischen Wissenschaft und Bildungspraxis. Und zwar zum einen bezüglich der Frage, was zeichnet eigentlich wirklich guten Unterricht mit und über digitale Medien aus? Aber auch, wie wirksame Fortbildungs- und aber auch Schulentwicklungskonzepte beschaffen sind, die ihrerseits auch die Potenziale von Digitalisierung nutzen.“

Bei der Transferstelle wiederum handelt es sich ebenfalls um einen Verbund, bestehend aus insgesamt zwölf Institutionen. Neben der Universität Potsdam, der Koordinierungsstelle des Projekts, sind noch sechs weitere Universitäten beteiligt, sowie vier Leibniz-Institute und, als Vertreter der Zivilgesellschaft, das Forum Bildung Digitalisierung. Dessen Vorstand Ralph Müller-Eiselt sieht den Verbund vor allem als Chance, das Thema digitale Bildungsteilhabe weiter voranzubringen. „Wenn man sich anschaut, was die Hürden für Bildungsteilhabe sind, dann geht es um Infrastruktur, um die Verfügbarkeit von Lehrmaterialien, aber auch um die Kompetenzen, die alle Beteiligten im System haben. Und die beiden letzten Punkte sind Kern von lernen:digital.“ 

Ihre Aufgabe sieht die Transferstelle zum einen in einer Vernetzung der Teilprojekte. Jedem der vier Kompetenzzentren ist ein Team aus sogenannten Broker:innen zugeordnet, die zwischen den Interessen der Projektverbünde, der Transferstelle und der Praxis vermitteln. Außerdem geht es darum, die Landesinstitute dabei zu unterstützen, Gelingensbedingungen und Hemmnisse des Wissenstransfers zu identifizieren und die Sichtbarkeit der Ergebnisse zu erhöhen. Ein eigenes Team für das Handlungsfeld Wissenschaftskommunikation hat das Ziel, Informationen aufzubereiten und Impulse zu geben, um den systemischen Transfer mit niedrigschwelligen Angeboten zu unterstützen. Darüber hinaus betreibt die Transferstelle auch eigene Forschung. „Diese verstehen wir als nutzeninspiriert. Das heißt, sie ist einerseits von einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse getrieben, andererseits aber auch darauf ausgerichtet, einen Beitrag zur Gestaltung der Bildungspraxis zu leisten“, so Katharina Scheiter.

Foto: Phil Dera

Bund und Länder als Teamplayer

Soweit die Idee des Kompetenzverbunds, die insgesamt auch sehr wohlwollend von den versammelten Akteur:innen aufgenommen wurde. Natürlich gab es dennoch die ein oder andere Detailfrage an die Projektverantwortlichen. Der Fokus lag dabei auf den Handlungsfeldern Transfer und Wissenschaftskommunikation und der im Rahmen zukunftsorientierter Bildungsinitiativen immer wieder formulierten Herausforderung, einzelne Ergebnisse aus einem kleinen Kreis von Vorreitern in die Breite eines föderal verästelten Bildungssystems zu bringen. Die Ausbildung von Multiplikator:innen und die Etablierung von Standards seien Maßnahmen, welche die Landesinstitute bereits seit Jahren anwenden, so eine Vertreterin des Landesinstituts Niedersachsen in einer Fragerunde mit Katharina Scheiter und Michaela Weiß vom Forum Bildung Digitalisierung. Sie könne nur dringend raten, diese Expertise auch zu nutzen. 

Eine weitere Herausforderung: die mit insgesamt drei Jahren recht knapp bemessene Projektlaufzeit von lernen:digital. Dass dies für den Aufbau effektiver Strukturen, den Abbau föderaler Bildungssilos und den Einstieg in ko-kreative Arbeitsprozesse viel zu kurz sei, darüber waren sich viele der anwesenden Bildungsexpert:innen einig. Allerdings, so kommentierten sowohl Katharina Scheiter als auch BMBF-Abteilungsleiterin Johanna Börsch-Supan den Einwand, sei es auch gar nicht der Anspruch des Projekts, in solch kurzer Zeit systemische Veränderungen realisieren zu können. Vielmehr verstehe man das Projekt als Impulsgeber (Scheiter), als Katalysator (Börsch-Supan), der längst überfällige Veränderungen anstößt und im Rahmen einer Anschlussförderung (hoffentlich) weiter verstetigt. Die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger lobte den Verbund in einem Videogrußwort zur Veranstaltung als wegweisende Kooperation zwischen Bund und Ländern. „Die Wissenschaft zusammen mit der Praxis. Gemeinsam bringen wir die digitale Bildung voran. Als echtes Team.“

Foto: Phil Dera

Wandel der Forschungspraxis

Wenn es also das zentrale Ziel des Kompetenzverbunds ist, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis zu verbessern, dann bot die Veranstaltung viele spannende Gelegenheiten, Beispiele aus der Praxis zu sammeln und tiefer in die Gelingensbedingungen eines wirksamen Transfers einzusteigen. Die erste Frage wäre nämlich: Was verstehen wir eigentlich unter Transfer, wie sie ein Workshop zu diesem Thema stellte. Eine Nachwuchswissenschaftlerin berichtete, wie in ihrem Studium die Auseinandersetzung mit der Praxis eher vermieden als gefördert werde. Alle waren sich einig: Transfer werde im derzeitigen Wissenschaftssystem nicht gefördert, eine Veränderung der Forschungspraxis sei dringend notwendig. „Dabei könnte man beide Aspekte miteinander verbinden. Es wäre durchaus möglich, Lehramtsstudierende parallel zum Referendariat promovieren zu lassen. Solche Pilotprojekte hat es ja in einzelnen Bundesländern bereits gegeben“, so Katharina Scheiter in einer Fragerunde mit den teilnehmenden Expert:innen.

Susanne Prediger, Mathematikdidaktikerin und Expertin in der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, welche die Kultusministerkonferenz berät, zeichnete ein differenzierteres Bild. Nach ihrer Einschätzung können Wissenschaft und Praxis problemlos kooperieren. „Einzelne Wissenschaftler:innen entwickeln mit einzelnen Lehrer:innen innovative Unterrichtskonzepte, einzelne Fortbildungsdesigner:innen erarbeiten mit einzelnen Fortbildner:innen spannende Fortbildungskonzepte. Diese beiden Ebenen der Ko-Konstruktion sind bereits gut etabliert.“ Die Herausforderung liege in der Schwierigkeit, diese Ergebnisse dann in die Breite zu tragen. „Wir brauchen dann auch Konzepte für die weitere Aneignung.“ Hier könne und müsse die Wissenschaft helfen, so Prediger.

Positive Fehlerkultur

In der Schlussrunde wurde dann noch einmal sehr deutlich, vor welchen Herausforderungen reine Praktiker:innen gerade stehen, wenn die Rede davon ist, wissenschaftliche Erkenntnisse gingen oft an der Unterrichtspraxis vorbei. Johannes Terwitte, Mitbegründer der kleinen Dorfschule in Lassaner Winkel, sieht sich konfrontiert mit einer Masse an Bildungsangeboten, die ihn fast täglich erreichen, ohne dass er die Zeit hätte, deren Tauglichkeit für den eigenen Unterricht beurteilen zu können. „Hier wünsche ich mir Unterstützung von der Bildungswissenschaft im Sinne einer Evaluation und Sammlung erprobter Module, möglichst bündig zusammengestellt an einem Ort.“ Und dabei möglichst länderübergreifend anwendbar und dann wiederum anpassbar an lokale Bedürfnisse.

Bliebe eines der Grundprobleme von Fortbildungskonzepten, so sinnvoll und passend sie auch sein mögen, das Björn Nölte, Referent in der Schulaufsicht der Evangelischen Schulstiftung für Berlin und Brandenburg, am Ende ansprach. „Die Reaktion der meisten Schulleitungen ist dann: Das kann ich meinem Kollegium nicht auch noch zumuten.“ Eine mögliche Lösung lieferte Nölte gleich mit: „Es gibt einen Hebel, der relativ einfach zu bedienen ist, und das sind die Studientage, die jeder Schule zustehen: Wenn es gelänge, die Themen bei lernen:digital so aufzubereiten, dass sie in diesem Kontext interessant sind, dann könnte man damit viele Schulen auf einmal erreichen.“

Ob und wie gut das alles im Rahmen des Kompetenzverbunds gelingen kann, wird sich zeigen. Die Zeit ist knapp, die Herausforderung groß. Aber eines ist klar: Der Wille zur Veränderung ist da. Und die digitale Transformation ist ein Prozess, dem man am besten mit Offenheit begegnet. „Noch wichtiger als das Anhäufen von Wissen ist mir eine positive Fehlerkultur. Ich wünsche mir für uns alle, dass wir das Gefühl wertschätzen: Ich weiß noch nicht genau, wohin die Reise geht, aber ich will dabei sein“, gab Katharina Scheiter den Teilnehmenden mit auf den Weg.

Text: Klaus Lüber

Foto: Phil Dera

Mehr zum lernen:digital Kick-off